Das Wichtigste in Kürze:
- Das Pflichtteilsrecht der engsten Angehörigen (insb. Ehegatten und Nachkommen) ist ein charakteristisches Merkmal aller mitteleuropäischen Erbrechtsordnungen. Ihnen steht grundsätzlich ein bestimmter Mindestanteil am Nachlass zu. Er kann nur unter besonderen Voraussetzungen entzogen werden (Enterbung oder Erbunwürdigkeit).
- Pflichtteile werden den Berechtigten nicht automatisch ausgehändigt, sondern müssen eingeklagt werden. Die konkrete Berechnung der Pflichtteile kann sehr kompliziert sein und die Regeln dafür variieren von Land zu Land. In einigen Staaten (wie z.B. der Schweiz) nehmen die Pflichtteilsberechtigten als «vollwertige» Erben mit Eigentum am Nachlass und allen Informations- und Mitwirkungsrechten teil; in anderen (wie Deutschland oder Österreich) steht ihnen bloss eine Geldforderung gegenüber den Erben zu.
- Daneben gibt es – etwa im angloamerikanischen Rechtskreis – Rechtsordnungen, die gar kein Pflichtteilsrecht kennen. Dann sind Erblasserinnen und Erblasser grundsätzlich befugt, über ihren gesamten Nachlass zu verfügen, d.h. diesen vollumfänglich beliebigen Personen zuzuwenden.
- Das Pflichtteilsrecht wird oft infrage gestellt und ist einem stetigen Wandel unterworfen. Tendenziell wird der Pflichtteilsschutz zugunsten der Verfügungsfreiheit von Erblasserinnen und Erblassern reduziert, wie etwa im Zuge der schweizerischen Erbrechtsrevision 2023. In seinen Grundzügen ist es aber in der Rechskultur der Schweiz und ihrer Nachbarstaaten fest verankert und wird dies auch in absehbarer Zukunft bleiben.
Ursprung und Sinn des Pflichtteilsrechts
Der Anspruch bestimmter, dem Erblasser besonders nahestehender Erben auf einen Anteil an der Erbschaft ist als sogenanntes «Pflichtteilsrecht» heute in der Schweiz und allen ihren Nachbarstaaten fest verankert. Zwar finden immer wieder punktuelle Anpassungen dieses Pflichtteilsrechts statt, doch im Grundsatz findet diese Regelung sehr breite Akzeptanz in der Bevölkerung.
In der Schweiz etwa wurde eine Debatte über das Pflichtteilsrecht zuletzt im Vorfeld der Erbrechtsrevision 2023 geführt. Die bisher erfolgten Änderungen beschränkten sich auf die Abschaffung des Pflichtteilsanspruchs der Eltern des Erblassers sowie die Senkung der Pflichtteilsquote seiner Nachkommen. Damit wurde die Verfügungsfreiheit der Erblasserin bzw. des Erblassers ausgeweitet; die Grundidee und der inhaltliche Kern des Pflichtteilsrechts blieb aber unangetastet:
Das Erbrecht (und das Teilgebiet des Pflichtteilsrechts) hatte für die historischen Gesetzgeber in Mitteleuropa verschiedene Funktionen: Es sollte etwa den Frieden der aufeinanderfolgenden Generationen untereinander wahren, die vom Erblasser hinterlassenen Vermögenswerte über den Tod hinaus erhalten und sie in einer gerechten und wirtschaftlich sinnvollen Weise verteilen.
Zugleich sollte es aber auch zu einer Zeit, in der staatliche Fürsorge- und Sozialsysteme noch weit weniger leistungsfähig waren als heute, den Unterhalt der nächsten Angehörigen über den Tod des Erblassers hinaus ermöglichen. Das Pflichtteilsrecht sollte verhindern, dass insb. die Ehegattin und Kinder eines Erblassers, aber auch dessen betagte Eltern, Not leiden müssen, weil ihr Hauptversorger vor ihnen verstorben ist. Heute ist diese existenzsichernde Funktion des Pflichtteilsrechts weitgehend in den Hintergrund getreten, sodass die Schaffung von Gerechtigkeit und die Konfliktprävention nun als seine wichtigsten Funktionen gelten.
Letztlich hängt die rechtspolitische Frage, ob man Pflichtteilsansprüche schützen möchte, und wenn ja, in welchem Umfang, davon ab, welches Welt- und Menschenbild man zugrunde legt:
In eher individualistisch geprägten Gesellschaften wie den USA herrscht die Auffassung vor, dass das Vermögen (d.h. der spätere Nachlass) einer Person dieser alleine gehört und sie selbst möglichst frei und umfassend bestimmen kann, was nach ihrem Ableben damit geschieht. Deshalb ist der Pflichtteilsschutz der Angehörigen dort sehr schwach ausgestaltet oder nicht vorhanden, die Testierfreiheit ist sehr weitreichend. Erblasserinnen und Erblasser können also frei verfügen, wer etwas von ihrem Nachlass erhält und wer nicht – selbst wenn dabei ihr engster Familienkreis leer ausgeht.
In anderen Gesellschaften, wie etwa in Italien, die den Menschen eher als soziales Wesen, als Mitglied einer kollektiven Gemeinschaft – insb. eines Familienverbands – begreifen, ist der Pflichtteilsschutz hingegen besonders stark ausgeprägt. Es entspricht dort der Vorstellung des Gesetzgebers, dass das Vermögen eines Erblassers eng mit seinen Familienbeziehungen verflochten ist, und dass zumindest ein Teil davon seinen Familienmitgliedern zustehen sollte. Der nicht pflichtteilsgebundene Rest, über den der Erblasser mit Testament oder Erbvertrag frei verfügen kann, wird (wie auch in der Schweiz) als «verfügbare Quote» oder «freie Quote» bezeichnet.
Das Pflichtteilsrecht in verschiedenen Rechtsordnungen
In einigen Ländern, vor allem in Kontinentaleuropa (z.B. Deutschland oder Frankreich) sowie den Staaten, deren Zivilrechtskodifikationen an diese angelehnt sind, haben bestimmte Familienmitglieder der Erblasserin oder des Erblassers, insbesondere dessen Ehegattin und Kinder, einen Pflichtteilsanspruch auf den Nachlass oder eine wertmässige Quote davon. Wie der Pflichtteilsanspruch genau berechnet wird, kann zwischen den einzelnen Staaten variieren.
Der Pflichtteil als Anteil der gesetzlichen Erbquote
Seit 2023 beträgt der Pflichtteil in Deutschland, Österreich und der Schweiz die Hälfte des gesetzlichen Erbanspuchs. Das bedeutet, je mehr eine Person erben würde, wenn die Erblasserin weder Testament noch Erbvertrag hinterlässt, desto grösser ist auch ihr Pflichtteilsanspruch. Würde z.B. die Ehegattin von Gesetzes wegen die Hälfte erben und jedes von zwei Kindern ein Viertel, so betragen die Pflichtteilsansprüche ein Viertel bzw. je ein Achtel. Über die andere Hälfte kann der Erblasser frei verfügen und sie z.B. als Vermächtnis einer gemeinnützigen Organisation zuwenden.
Der Pflichtteil als Anteil des Gesamtnachlasses
In anderen Staaten, etwa in Frankreich oder Italien, ist das Pflichtteilsrecht hingegen unabhängig von der gesetzlichen Erbquote. Der Pflichtteil bezieht sich stets auf den Nachlass an sich, egal wie gross die gesetzlichen Erbteile wären.
Die «réserve héréditaire» des französischen Code civil wirkt primär zugunsten der Nachkommen des Erblassers oder der Erblasserin; ihre Anzahl beeinflusst auch den Umfang der verfügbaren Quote (sie beträgt die Hälfte des Nachlasses bei einem Kind, ein Drittel bei zwei Kindern und ein Viertel bei drei oder mehr Kindern). Der überlebende Ehegatte hat nur dann einen Pflichtteilsanspruch, wenn der Erblasser keine Nachkommen hinterlässt; er beträgt in diesem Fall ein Viertel des Nachlasses.
Nach dem italienischen Codice civile sind der überlebende Ehegatte oder die eingetragene Partnerin, die Nachkommen und die Vorfahren der Erblasserin oder des Erblassers pflichtteilsberechtigt; die verfügbare Quote variiert und fällt in klassischen Familienkonstellationen eher gering aus (je nachdem, wer zum Kreis der Erben gehört, zwischen der Hälfte und einem Viertel).
Geltendmachung und Berechnung von Pflichtteilsansprüchen
Werden pflichtteilsberechtigte Erbinnen oder Erben vom Erblasser übergangen, so erhalten sie nicht automatisch trotzdem ihren Pflichtteil. Diesen müssen sie vielmehr mit einer erbrechtlichen Klage (der Pflichtteils- oder Herabsetzungsklage) vor Gericht geltend machen. Um in einem solchen Gerichtsverfahren von der abstrakten Pflichtteilsquote auf einen konkret geschuldeten Geldbetrag zu kommen, wird im Allgemeinen vom «reinen Nachlass» (Vermögen abzüglich Schulden) im Todeszeitpunkt des Erblassers ausgegangen. Dazu werden gewisse Leistungen hinzugerechnet (insb. lebzeitige Zuwendungen, Erbvorbezüge, Erbabfindungen etc.). Die Pflichtteilsberechnung kann im Detail sehr komplex sein, weshalb sich auf diesem Gebiet eine Beratung durch Fachpersonen besonders empfiehlt. Dasselbe gilt für die Ausgleichung (Anrechnung) lebzeitiger Zuwendungen auf den Erbteil und den Pflichtteil.
Der Pflichtteil kann nur unter besonderen Voraussetzungen (namentlich Straftaten oder schwere Pflichtverletzungen der Erbin oder des Erben gegenüber der Erblasserin oder dem Erblasser oder ihnen Angehörigen, unter Umständen auch Überschuldung) wirksam entzogen werden. In Deutschland und der Schweiz muss der Enterbungsgrund in einer Verfügung von Todes festgehalten werden; in Österreich ist dies nicht erforderlich. In Frankreich und Italien ist eine testamentarische Enterbung von Pflichtteilserben nur sehr eingeschränkt oder gar nicht möglich. Vorbehalten bleibt zudem ein Erbverzicht oder die Ausschlagung der Erbschaft durch die Pflichtteilsberechtigten.
Alle fünf Staaten kennen aber sogennante Erbunwürdigkeitsgründe, bei deren Vorliegen die Person, die einen solchen verschuldet hat, von Gesetzes wegen (d.h. ohne besondere Anordnung durch den Erblasser) erbunwürdig und damit von der Teilnahme am Erbgang ausgeschlossen wird.
In der Schweiz und in Italien erhalten die pflichtteilsberechtigten Personen, die ihren Anspruch klageweise geltend machen, vollumfängliche Erbenstellung (d.h. Eigentum am Nachlass und auch gewisse Informations- und Mitwirkungsrechte innerhalb der Erbengemeinschaft); in Deutschland, Österreich und Frankreich steht ihnen hingegen bloss ein wertmässiger Abfindungsanspruch zu. Der Pflichtteil kann im Übrigen aber auch durch lebzeitige Zuwendungen oder ein sogenanntes «Pflichtteilsvermächtnis» abgegolten werden.
Rechtsordnungen ohne Pflichtteilsrecht
Andere Staaten, vor allem die Länder des Common Law (z.B. USA, England, Kanada oder Australien), kennen keine Pflichtteile im zuvor erläuterten Sinn. Sie überlassen es entweder gänzlich dem der Erblasserin, ihre Rechtsnachfolger zu bestimmen (umfassende Testierfreiheit), oder sie stellen die Angelegenheit (immerhin teilweise) in das Ermessen der Gerichte, wobei die Höhe der Ansprüche in erster Linie von der finanziellen Bedürftigkeit abhängt.
Alternativen und Entwicklungen rund um das Pflichtteilsrecht
Damit sind auch bereits die Alternativen angesprochen, die in manchen Rechtsordnungen ergänzend zum Pflichtteilsrecht oder anstelle eines Pflichtteilsanspruchs vorgesehen sind. Eine wichtige Möglichkeit, nahe Angehörige finanziell abzusichern, ist etwa ein Unterhaltsvermächtnis, wie es das österreichische ABGB kennt. Dieses «umfasst im Zweifel Nahrung, Kleidung, Wohnung, die nötige Ausbildung und die übrigen Bedürfnisse des Vermächtnisnehmers. Das Ausmaß richtet sich im Zweifel nach den bisherigen Lebensverhältnissen des Vermächtnisnehmers» (§ 672 Abs. 1 ABGB).
Es gibt auch Regelungen, die nicht an starre Verwandtschaftsverhältnisse anknüpfen, sondern an tatsächlich gelebte soziale Beziehungen zwischen der Erblasserin oder dem Erblasser und ihren Angehörigen. Wiederum ein Beispiel aus dem österreichischen Recht ist das sogenannte Pflegevermächtnis: «Einer dem Verstorbenen nahe stehenden Person, die diesen in den letzten drei Jahren vor seinem Tod mindestens sechs Monate in nicht bloß geringfügigem Ausmaß gepflegt hat, gebührt dafür ein gesetzliches Vermächtnis, soweit nicht eine Zuwendung gewährt oder ein Entgelt vereinbart wurde. […] Die Höhe des Vermächtnisses richtet sich nach Art, Dauer und Umfang der Leistungen.» (§ 677 f. ABGB).
Ein damit vergleichbares Ergebnis kann auch durch vertragliche Geschäfte erzielt werden, namentlich sogenannte Leibrenten (Verpfründung, Ausgedinge, etc.). Diese waren früher wichtige Instrumente der Altersvorsorge und der Nachlassplanung, haben aber mit dem Ausbau der gesetzlichen Sozialleistungen unter anderem in Österreich, Liechtenstein und der Schweiz stark an Bedeutung verloren.
Eine Absicherung überlebender Angehöriger erfolgt sodann durch diverse sozialversicherungsrechtliche Mechanismen. Viele Staaten kennen Witwen- und Waisenrenten, die aber in der Regel in ihrer Dauer und Höhe begrenzt sind. Auch Einrichtungen der Pensionsvorsorge sind unter Umständen gesetzlich verpflichtet, Guthaben, welche die Erblasserin oder der Erblasser einbezahlt hat, an dessen Angehörige auszuzahlen. Schliesslich gibt es natürlich auch die Möglichkeit, private (Ab-)Lebensversicherungen zugunsten bestimmter Hinterbliebener abzuschliessen, um diese im Todesfall finanziell abzusichern.