Wie werden die Pflichtteile berechnet?

Nach dem schweizerischen Erbrecht steht Ehegatten und Kindern einer verstorbenen Person ein Pflichtteil zu. Wie dieser seit der Erbrechtsrevision 2023 berechnet und geltend gemacht wird, erklären wir Ihnen im folgenden Ratgeberartikel.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Die Pflichtteile sind besondere erbrechtliche Ansprüche, die Ehegatten und Nachkommen grundsätzlich zwingend zustehen. Sie betragen die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs, der ihnen zustünde, wenn es keine Verfügung von Todes wegen gäbe.
  • Die Pflichtteile werden berechnet, indem die Pflichtteilsquoten mit der Pflichtteilsberechnungsmasse multipliziert werden. Um die Pflichtteilsberechnungsmasse zu bestimmen, werden zum Nettonachlass bestimmte lebzeitige Zuwendungen und Versicherungsleistungen hinzugerechnet. Damit sollen Umgehungen des Pflichtteilsrechts verhindert werden.
  • Die Pflichtteile müssen mit der Herabsetzungsklage binnen gewisser Fristen geltend gemacht werden. Die Erhebung einer Herabsetzungsklage ist aber mit gewissen Risiken verbunden, sodass es im Einzelfall ratsam ist, eine Anwältin oder einen Anwalt beizuziehen.

Was sind die Pflichtteile und wer ist Pflichtteilserbe?

Das Pflichtteilsrecht baut auf dem (allgemeinen) gesetzlichen Erbrecht auf. Das gesetzliche Erbrecht regelt die Vermögensnachfolge so, wie der Gesetzgeber annimmt, dass eine Erblasserin oder ein Erblasser vermutlich die eigenen Angehörigen begünstigen würde (primär Ehegatten und Nachkommen, sekundär Eltern, Geschwister etc. und schliesslich entfernte Verwandte wie Grosseltern, Onkel, Tanten usw.). Weil aber jede Lebenssituation und Familienkonstellation anders ist, kann die gesetzliche Erbfolge durch Testamente oder Erbverträge abgeändert werden.

Die Grenze dieser sogenannten «Verfügungsfreiheit» ist eben das Pflichtteilsrecht: Dieses gewährt dem engsten Kreis der Angehörigen einen grundsätzlich zwingenden Erbanspruch. Der Pflichtteil kann ihnen nur entzogen werden, wenn dazu besondere Enterbungsgründe (schwere Straftaten oder familienrechtliche Pflichtverletzungen) vorliegen und dies in einem Testament oder Erbvertrag detailliert genannt wird. Immerhin ist es aber möglich, auch ohne Begründung alle oder einzelne Erbberechtigte «auf den Pflichtteil zu setzen», d.h. ihnen nur genau diesen zuzuwenden und den Rest (die sogenannte «freie Quote») jemand anderem zukommen zu lassen.

Mit dem Pflichtteilsanspruch bezweckt das Erbrecht auch, den Unterhalt der mit der Erblasserin oder dem Erblasser verbundenen Personen sicherzustellen. Früher, als das schweizerische Sozialversicherungssystem (AHV/IV, BVG und private Vorsorge) noch weniger gut ausgebaut war, war diese Existenzsicherungsfunktion von grosser Bedeutung. Heute ist dies nicht mehr so wichtig, und viele Menschen wünschen sich mehr Freiheit zu bestimmen, wem sie wie viel und was hinterlassen möchten. Deshalb wurden im Zuge der Erbrechtsrevision 2023 die Pflichtteile der Eltern des Erblassers ersatzlos gestrichen und diejenigen der Nachkommen von drei Viertel auf die Hälfte des gesetzlichen Erbteils reduziert.

Damit gelten heute nur noch Ehegatten, eingetragene Partner und Nachkommen (d.h. Kinder, Enkelkinder, Urenkel etc.) als Pflichtteilserben. Ihr Pflichtteil beträgt immer die Hälfte dessen, was sie von Gesetzes wegen bekommen würden, wenn die Erblasserin oder der Erblasser nichts verfügt hätte.

Der Pflichtteilsanspruch ist immer ein wertmässiger Anspruch, d.h. er lautet auf einen bestimmten Geldbetrag und nicht auf einzelne Sachen. Alle Erbinnen und Erben haben grundsätzlich den gleichen Anspruch auf die Nachlassgegenstände. Davon gibt es vereinzelte Ausnahmen, z.B. einen gesetzlichen Anspruch des überlebenden Ehegatten auf die gemeinsame Wohnung oder wenn der Erblasser durch Teilungsvorschriften bestimmt, wer welche Gegenstände erhalten soll.

Was ist die Pflichtteilsberechnungsmasse, und was gehört dazu?

Diesen relativen Wert («die Hälfte des gesetzlichen Erbteils») in absolute Zahlen, also auf einen konkreten Geldbetrag umzurechnen, ist eine zentrale Schwierigkeit des Pflichtteilsrechts. Der Grund dafür ist, dass nicht nur der Verkehrswert des Nachlasses zum Todeszeitpunkt der Erblasserin oder des Erblassers bestimmt werden muss, sondern dass auch gewisse lebzeitige Zuwendungen und Versicherungsleistungen hinzuzurechnen sind.

Durch diese Hinzurechnungen kommt man vom «reinen Nachlass» auf die «Pflichtteilsberechnungsmasse». Die Pflichtteilsberechnungsmasse ist eine rechnerische Grösse, aufgrund derer die Pflichtteile der einzelnen Erben bestimmt werden. Sie kann für verschiedene Erben (z.B. eheliche und uneheliche Kinder) unterschiedlich gross sein.

Ausgangspunkt der Pflichtteilsberechnung ist, wie erwähnt, das im Todeszeitpunkt vorhandene Nachlassvermögen. Dazu gehören sämtliche Aktiven und Passiven, einschliesslich des Saldos der güterrechtlichen Auseinandersetzung bei verheirateten Erblassern. Die Passiven, d.h. die Schulden, werden von den Aktiven, also den Vermögenswerten abgezogen, um den Nettowert zu ermitteln.

Zum Nettonachlasswert werden dann bestimmte lebzeitige Zuwendungen hinzugerechnet. Insbesondere geht es dabei um Erbvorbezüge, Erbauskaufsbeträge, grössere Schenkungen während der letzten fünf Jahre sowie Geschäfte, die zwecks Umgehung des Pflichtteilsrechts getätigt wurden. Auch ausgleichungspflichtige Zuwendungen sind bei der Pflichtteilsberechnung zu berücksichtigen. Die Idee hierbei ist, dass Vermögenswerte dem Nachlass zugeführt werden sollen, die eigentlich im Todeszeitpunkt vorhanden sein müssten, wenn sie nicht durch besondere, erbrechtlich relevante Geschäfte veräussert worden wären. Dies soll verhindern, dass das Pflichtteilsrecht durch solche Geschäfte ausgehöhlt wird.

Besondere Vorschriften gelten auch für Lebensversicherungen und die gebundene Selbstvorsorge (Säule 3a): Hat der Erblasser eine Lebensversicherung auf den Todesfall abgeschlossen und ist eine andere Person Gläubiger der Versicherungssumme, so wird der Rückkaufswert zur Pflichtteilsberechnungsmasse hinzugerechnet. Der Rückkaufswert ist die Summe, die der Versicherungsnehmer ausbezahlt bekommt, wenn der Vertrag vor dem Eintritt des versicherten Risikos aufgelöst wird.

Die Summe all dieser Beträge, d.h. der Nettonachlass, bestimmte lebzeitige Zuwendungen und Versicherungsleistungen, bildet schliesslich die Pflichtteilsberechnungsmasse. Diese wird mit der Pflichtteilsquote (der Hälfte des gesetzlichen Erbteils) multipliziert und ergibt dann den Pflichtteilsbetrag, der dem einzelnen Erben oder der Erbin zusteht.

Wie werden die Pflichtteile geltend gemacht?

Erbinnen und Erben erhalten den ihnen zustehenden Pflichtteil unter Umständen nicht «automatisch», sondern müssen ihn mit der sog. Herabsetzungsklage geltend machen. Im Erbrecht gilt nämlich das Anfechtungsprinzip, welches besagt, dass eine fehlerhafte Verfügung von Todes wegen solange wirksam bleibt, bis eine dazu berechtigte Person auf ihre Aufhebung klagt. Oder anders ausgedrückt: «Wo kein Kläger, da kein Richter

Mit der Geltendmachung des Pflichtteils dürfen sich die Berechtigten nicht zu lange Zeit lassen, denn die Herabsetzungsklage verjährt ein Jahr nach Kenntnisnahme von der Pflichtteilsverletzung und in allen Fällen 10 Jahre nach dem Tod bzw. der Testamentseröffnung. In gewissen Fällen kann danach noch die Herabsetzung trotzdem noch (im Rahmen eines anderen Verfahrens) geltend gemacht werden. Das Zuwarten ist aber mit Risiken verbunden, sodass im Zweifel eine Klage sinnvoller sein kann.

Zu beachten ist aber auch, dass die Erhebung einer Herabsetzungsklage in der Regel mit einem Prozesskostenrisiko verbunden ist. Das bedeutet, die klagende Partei muss einen Vorschuss für die Gerichtskosten leisten und falls sie unterliegt, die Gegenpartei für ihre Anwaltskosten entschädigen. Daher ist es ratsam, vorab eine anwaltliche Beratung oder Vertretung in Anspruch zu nehmen. Wir würden uns freuen, Sie für eine kostenlose Erstberatung an erfahrene Anwältinnen und Anwälte vermitteln zu dürfen, die sich speziell mit dem Erbrecht befassen.

Wird eine Herabsetzungsklage gutgeheissen, so werden die Erbteile der übrigen Miterbinnen und Miterben soweit reduziert («herabgesetzt»), bis der Pflichtteil der klagenden Partei wiederhergestellt ist. Die Herabsetzung erfolgt in einer bestimmten Reihenfolge: Zuerst betrifft dies Vermögenswerte, über die der Erblasser nicht verfügt hat, dann Verfügungen von Todes wegen und schliesslich lebzeitige Zuwendungen. Ausserdem hat die klagende Partei Anspruch auf eine Entschädigung für die geleisteten Prozesskostenvorschüsse und ihre eigenen Anwaltskosten.

Ein Beispiel zur Veranschaulichung

Mit diesen Regeln wirkt das Pflichtteilsrecht ziemlich abstrakt, und man kann sich darunter vielleicht wenig vorstellen. Ein konkretes Rechenbeispiel kann aber gut verdeutlichen, wie die Pflichtteile berechnet und geltend gemacht werden:

Ausgangssachverhalt: Die unverheiratete Erblasserin Anna hinterlässt zwei Kinder, Claudia und Daniel, sowie ihren Lebensgefährten Beat. In einem Testament hat Anna vorgesehen, dass Claudia 1/5, Daniel 3/5 und Beat 1/5 von ihrem Nachlass erhalten sollen. Anna hinterlässt nur ein Haus im Wert von CHF 1’500’000, mit einer Hypothek von CHF 500’000. Ein Jahr vor ihrem Tod hat Anna Beat ein Gemälde im Wert von CHF 200’000 geschenkt.

1. Bestimmung der Erbberechtigten: Gesetzliche Erben sind die beiden Kinder Claudia und Daniel als Nachkommen. Beat ist als unverheirateter Lebensgefährte zwar nicht von Gesetzes wegen erbberechtigt, wurde aber in Annas Testament als Erbe eingesetzt.

2. Bestimmung der Pflichtteilsquoten: Die Kinder Claudia und Daniel würden ohne Testament zu gleichen Teilen erben, weshalb ihre gesetzliche Erbquote je 1/2 beträgt. Der Pflichtteil beträgt immer die Hälfte der gesetzlichen Erbquote, sodass die Pflichtteile von Claudia und Daniel je (1/2 * 1/2 =) 1/4 betragen. Beat ist kein gesetzlicher Erbe und daher auch nicht pflichtteilsberechtigt.

3. Bestimmung der Pflichtteilsberechnungsmasse: Vom einzigen Aktivum in Annas Nachlass, dem Haus, werden die Passiven, also die Hypothek, abgezogen. Der Nettonachlass beträgt dann (CHF 1’500’000 – CHF 500’000 =) CHF 1’000’000. Weil Anna ausserdem Beat in den letzten fünf Jahren vor ihrem Tod ein Gemälde im Wert von CHF 200’000 geschenkt hat, wird dieser Betrag zur Pflichtteilsberechnungsmasse hinzugezählt.  Die Pflichtteilsberechnungsmasse beläuft sich also auf (CHF 1’000’000 + 200’000 =) CHF 1’200’000.

Hätte Anna eine Lebensversicherung abgeschlossen, käme auch diese noch dazu.

4. Berechnung der Pflichtteile: Die Pflichtteile von Anna und Beat betragen je 1/4 (2. Schritt) der Pflichtteilsberechnungsmasse von CHF 1’200’000 (3. Schritt), also nominal jeweils (CHF 1’200’000 * 1/4 =) CHF 300’000.

5. Berechnung der tatsächlichen Erbteile: Gemäss dem Testament von Anna erhalten Claudia 1/5, Daniel 3/5 und Beat 1/5 von ihrem Nachlass (der netto CHF 1’000’000 beträgt). Betragsmässig erhält also Claudia (CHF 1’000’000 * 1/5 =) CHF 200’000, Daniel (CHF 1’000’000 * 3/5 =) CHF 600’000 und Beat (CHF 1’000’000 * 1/5 =) CHF 200’000.

6. Gegenüberstellung von Pflichtteilen und Erbteilen: Claudia und Daniel haben einen Pflichtteilsanspruch von je CHF 300’000 (4. Schritt). Gemäss Testament von Anna erhält Claudia CHF 200’000 und Daniel CHF 600’000 (5. Schritt). Da Anna nur CHF 200’000 statt CHF 300’000 erhält, ist sie in ihrem Pflichtteil verletzt und kann die Herabsetzung verlangen. Der Pflichtteil von Daniel, der mit CHF 600’000 mehr als den Pflichtteil von CHF 300’000 bekommt, ist hingegen nicht verletzt, und Beat steht kein Pflichtteil zu (2. Schritt).

7. Parameter der Herabsetzungsklage: Die letztwillige Verfügung von Anna verletzt den Pflichtteil von Tochter Claudia um CHF 100’000, weshalb Claudia mittels Herabsetzungsklage die Wiederherstellung ihres Pflichtteils verlangen kann. Dazu werden die testamentarischen Zuwendungen an Daniel und Beat um insgesamt CHF 100’000 reduziert, sodass am Ende Claudia ihren vollen Pflichtteil von CHF 300’000 erhält

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Eine Antwort auf „Wie werden die Pflichtteile berechnet?“

Beatrice Marasco sagt:

Wäre sehr schön gewesen, man ginge bei der Definition der Erbmasse auch auf die Todesfallkapitale von 3b-Versicherungen ein (nicht nur bei der 3a, wo es „klar ist“. Bei den 3b’s ist nämlich bis heute unklar, in welchem Fall es zur Anrechnung kommt und wann nicht).

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