Ihre Mutter hat ALS: «Wir geniessen die verbleibende Zeit»

ALS beschäftigt DeinAdieu. Nach dem vielbeachteten Blog-Beitrag über Dorette Lüdi, 68, lernte Autor Martin Schuppli die Töchter der schwer kranken Frau kennen. Sie erzählten ihm, wie sie das Schicksal ihrer Mutter erleben.

«Mami ist die Beste», sagen Katharina und Stefanie, die erwachsenen Töchter von Dorette Lüdi. «Dorette ist die Beste.» Die das sagen, sind der Ehemann, die Enkel, das sind die Schwiegersöhne, Freundinnen, Freunde, Kolleginnen, Kollegen und auch die Leidensgenossen.

Dorette Lüdi ist krank. Unheilbar. Seit 2014 kennt sie die Diagnose. ALS. Amyotrophe Lateralsklerose heisst die rasch voranschreitende, degenerative Erkrankung des zentralen und peripheren Nervensystems. Die Muskelsubstanz schwindet rasch. Die 68-Jährige nennt es eine «Scheisskrankheit». «Mami ist direkt», sagt Katharina, die ältere der beiden Töchter. «Angenehme und unangenehme Dinge nennt sie beim Namen. Sie packt an, sie handelt.» Stefanie nickt. «Als wir von ihrer Krankheit erfahren haben, weinten alle – ausser Mami.» Katharina lächelt ganz fein, blickt hinauf zur Decke, sagt: «Und wenn heute jemand Tränen in den Augen hat, dann sagt Mami, ‹musch fescht ue luege und blinzle›.»

Auch in grosser Trauer wird gelacht

Weinen hat Platz, lachen hat Platz. Wenn die «Sippe» zusammenkommt, geht es fröhlich zu und her. «Wir feiern alles», sagt Katharina. «Öffnen immer wieder mal eine Flasche Wein, stossen an auf das Leben.»

Dorette Lüdi erzog ihre Kinder weitgehend alleine. «Eine harte Zeit», erinnern sich die beiden jungen Frauen. «Mama musste untendurch, musste kämpfen. Und wenn sie fiel, dann rappelte sie sich auf, lief weiter. So nach dem Motto: aufstehen, Krone richten und weiter gehen.» Beide Töchter haben verständnisvolle Arbeitgeber und Ehemänner. Das erleichtert es, im Notfall Zeit für die Mutter zu haben. «Ich reduzierte mein Pensum auf 90 Prozent», sagt Stefanie. «So habe ich jeden zweiten Montag frei. Und diese Zeit gehört ihr allein. Wir machen Ausflüge, gehen einkaufen oder zum Arzt. Wir verbringen so viel Zeit wie möglich zusammen und besprechen alles, was uns bewegt. Es mag ungewöhnlich klingen, aber Mami weiss alles von mir, sie ist für mich mehr als nur meine Mutter. Sie ist für mich genauso wichtig wie mein Mann.»

Die beiden Frauen schauen sich an. Der Autor spürt, die beiden verstehen sich wortlos, harmonieren ausgezeichnet. «Wir ergänzen uns perfekt.», sagt Katharina. «Steffi ist fürs Seelenheil zuständig, ich fürs Organisatorische.» Stefanie schweigt, denkt nach und ergänzt: «Diese ‹Scheisskrankheit› hat auch eine, wenn man will, positive Seite.» Sie schweigt wieder einen Moment. Fährt dann weiter: «Klar, wir alle müssen einmal sterben. Auch unsere Eltern. Aber weil wir von ihrem Tod wissen, können wir den Abschied erleben. Können die uns verbleibende Zeit bewusst gestalten.»

Das tönt sehr logisch. Stimmt. Dorettes nahendes Lebensende hat viele traurige Seiten. So wird die Zürcher Unterländerin nie wissen, welchen Beruf ihre Enkelin ergreift, sie wird nie den ersten richtigen Schatz des Mädchens kennenlernen. Sie wird sie nie als pubertierenden Teenager erleben. «Das ist es, was mir am meisten weh tut», sagt Katharina. «Ich konnte mit meinem Mami so vieles erleben. Liebes und Leides. Fröhliches und Trauriges. Das alles können Enkelin und Mamama wohl nicht.»

Dorette will ihr Lebensende selbst bestimmen

Mutter und Töchter haben ein enges Verhältnis. «Wie gesagt, wir reden über alles. Darum war die Beerdigung ebenfalls ein Thema. Es erstaunt also niemanden, dass Dorette Lüdi bereits eine Urne besitzt: Das «finale Chischtli» nennt sie sie. Die Töchter wissen, dass ihre Mutter ein selbstbestimmtes Leben führt – bis zum Schluss. «Wir wissen, wann, also in welchem Stadium der Krankheit, Mami nicht mehr leben mag. Auch darüber haben wir ausführlich gesprochen», sagt Stefanie. «Wir wissen, dass sie dann ihr Lebensende selbst bestimmt und diesen Wunsch respektieren wir.»

Eine schwere Krankheit verschiebt einiges: «Gewisse Dinge sind plötzlich weniger wichtig», sagt Katharina. «ALS, oder diese Scheisskrankheit, wie Mami sie nennt, zwingt uns, auch in unserem Leben die positiven Seiten zu sehen und sie zu geniessen.»

Wie wahr. Die Weingläser klingen beim Anstossen. «Auf Mami», sagt Stefanie. «Sie ist die Beste», ergänzt Katharina.

Text: Martin Schuppli | Foto: zVg.

Ein Verein für ALS-Betroffene

Der Verein ALS Schweiz unterstützt Menschen mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und ihre Angehörigen.

Kernangebote:
Vermittlung ausgebildeter ALS-Fachpersonen, finanzielle Direkthilfe, Hilfsmittel- Leihservice, Vernetzungstreffen.

Spenden an den Verein ALS Schweiz sind steuerbefreit.
Finanzielle Zuwendungen werden für Direkthilfe oder Forschung eingesetzt.

Geschäftsstelle, Margarethenstr. 58, 4053 Basel
Telefon 044 887 17 20,
info@als-schweiz.ch | www.als-schweiz.ch

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Dein Adieu berichtete schon in mehreren Beiträgen über ALS

22. April 2016: Dorette Lüdi: «Ich habe ALS. Das ist ein Horror»
1. Juli 2016: Anna Rossinelli spielte für ALS-Kranke
5. August 2016: Prof. Markus Weber: «ALS-Diagnose ist keine Hexerei»

4 Antworten auf „Ihre Mutter hat ALS: «Wir geniessen die verbleibende Zeit»“

Patrick Schwaller sagt:

Meine liebe Familie

Ursina casutt sagt:

Ich bin in Gedanken bei euch. Ganz e liebs Grüessli a alli. Sina (ursina) mit Familie

Margrith Abbondio sagt:

Es macht wütend und traurig wenn man sehen muss wie der Patient sugsesiv langsam zu Grunde geht !!

Margrith Abbondio sagt:

ALS schreitet sehr sehr langsam voran das ist das grausame daran!!

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