Prof. Markus Weber: «ALS-Diagnose ist keine Hexerei»

Wenns um eine ALS-Diagnose geht, erhält folgendes Sprichwort grosse Bedeutung. «Geh zum Schmied und nicht zum Schmidle».

Prof. Markus Weber, Leiter des Muskelzentrums in St. Gallen, erklärt DeinAdieu.ch, wie sich er und sein Team um die 200 ALS-Patienten in der Schweiz  kümmern. Viele haben oft schon einen langen Leidensweg hinter sich. Dorette Lüdi etwa (deinadieu.ch berichtete). Die ALS-Kranke empfand die vielen Untersuchungen in den unterschiedlichsten Kliniken «als Folter», als eine grauenhafte Tortur. «Und danach hatte ich noch immer keine ALS-Diagnose. War mir noch immer nicht sicher, ob ich denn nun die tödlich verlaufende Muskelkrankheit ALS habe», sagte die 68-Jährige im Gespräch mit DeinAdieu.ch.

ALS-Diagnose: Es geht auch ohne Folter

Hätte sie sich direkt in St. Gallen testen lassen, wäre nach zwei Stunden alles klar gewesen. «Das ist keine Hexerei», sagt Markus Weber, der erfahrene Arzt. «Ganz am Anfang sind es unspektakuläre Symptome: Heiserkeit etwa und ständiges Räuspern. Ungeschicklichkeit, häufiges Stolpern, Muskelkrämpfe und Leistungseinbussen. Damit kann ein Hausarzt meist noch nichts anfangen.»

Uni-Arzt riet ALS-Patientin «fragen Sie Dr. Google»

Später folgen dann die typischeren Anzeichen: Jemand kann den Arm nicht mehr bewegen, redet schlecht. Auch das sind gemäss Dr. Weber «noch keine klaren Zeichen». Es vergeht also Woche um Woche. «In der Regel verstreichen gut und gerne sieben Monate, bis der Hausarzt erkennt, dass sein Patient, seine Patientin ein neurologisches Leiden hat», sagt Markus Weber. «Vorher schickt er Leidende zum Handchirurgen, zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt oder zu einem Orthopäden. Und zum Schluss landen sie bei einem Neurologen. Und bis der mit seinen Tests durch ist, vergehen im Durchschnitt zwei bis drei Monate. Dann erhält die Patientin, der Patient eine Diagnose. Bei Dorette Lüdi sagte der Arzt am Zürcher Unispital: «Sie haben wahrscheinlich ALS. Wenn Sie noch Fragen haben, gehen sie nach Hause und fragen Dr. Google.»

Hausärzte sollten «Red Flags» erkennen

Markus Weber schüttelt den Kopf, sagt kein Wort. Was man dann besser machen könne, fragt der Autor. «Hat ein Arzt keine Erfahrungen mit ALS, diagnostiziert er, was er kennt», sagt der Professor. Und wo entsteht die grösste Verzögerung? «Beim Hausarzt», sagt Markus Weber. «Gut wäre, er würde folgende ‹Red Flags› erkennen: Neu aufgetretene Krämpfe ausserhalb der Wadenmuskulatur beispielsweise, Muskelschwund ohne Schmerz, ohne Gefühlsstörung oder sogenannte Faszikulation* irgendwo am Körper.»

*Faszikulationen sind unwillkürliche Bewegungen sehr kleiner Muskelgruppen (Muskelbündel), die zwar unter der Haut sichtbar sind, aber zu keinem wesentlichen Bewegungseffekt führen. Sie sind nicht schmerzhaft und können oft durch Beklopfen oder Bewegen des Muskels provoziert werden.

 

ALS-Patienten benötigen verständliche Informationen

Derzeit betreuen Markus Weber und sein Team gegen 200 ALS-Kranke aus dem In- und Ausland: «Viele haben Lücken im pflegerischen, therapeutischen und im seelsorgerischen Bereich. Häufig betreuen wir Pflegenotfälle und nehmen Notinterventionen vor.»

Multidisziplinäre Versorgung in Kanada gelernt

Gross sei der Bedarf der Betroffenen und ihrer Angehörigen an Wissen. Markus Weber: «Sie brauchen verständliche Informationen in deutscher Sprache.» Dr. Google allein reicht also nicht, denkt sich der Autor und fragt den Facharzt, warum er sich denn auf ALS spezialisiert habe. Markus Weber lächelt, legt eine kurze Pause ein und sagt dann: «Man sucht sich nicht die Krankheit, sondern die Krankheit sucht sich die Leute, die daran arbeiten. Ich interessierte mich für Nervenmessung und forschte in Kanada an der grössten ALS-Klinik.» Dort erkannte Markus Weber, was multidisziplinäre Versorgung heisst. «Ich lernte ALS-Schwestern kennen, arbeitete mit Sozialarbeitern zusammen. Und ich erkannte, dass in Kanada der Paradigmenwechsel bereits stattgefunden hatte. Wir machten nicht nur Diagnosen und schickten die Patienten dann weg. Nein, das Team betreute die an ALS-Erkrankten bis zu ihrem Tod.»

ALS-Nurses ermöglichen allumfassendes Betreuungskonzept

Zurück in der Schweiz baute Markus Weber das Muskelzentrum in St. Gallen auf. Fragt man ihn nach dem Grund, warum sein Team am Kantonsspital über 200 Patienten aus dem Inland und aus dem Ausland betreue, sagt er lächelnd: «Schuld sind unsere drei Nurses, also die ALS-Schwestern Bea Goldman, Ursula Schneider und Helma Sommer.»

ALS-Diagnose machen reicht nicht

Die ALS-Nurses stehen für ein holistisches, ein allumfassendes, Konzept. Markus Weber erklärt: «Es ist ganz einfach. Diagnose machen allein reicht nicht. Erhält jemand von uns nach einer rund zweistündigen Untersuchung die so genannte ‹Bad News›, ist eine der Nurses dabei. Sie wird den Patienten, die Patientin nun zusammen mit Ärzten bis ans Lebensende begleiten. Sie hört also, was gesprochen wird. Das ist wichtig und von unschätzbarem Wert. Wir lassen niemanden alleine. Da bleibt Raum zum Weinen, zum Verzweifeln.»

ALS-Diagnose: Nach dem Taucher die Auseinandersetzung

Die ALS-Nurse kann erste Fragen beantworten. Sie kennt Tipps und Tricks, vermittelt Zuversicht. «Nach zwei bis drei Wochen sehen wir die Patienten wieder», sagt Prof. Weber. «Alle machen sie einen Taucher, dann kommt die Auseinandersetzungsphase. Die Betroffenen sagen sich: ‹Ich habe die Krankheit und mache jetzt das Beste draus.›»

«Ich kann nicht mit jedem Patienten mitsterben»

Eine grosse Rolle im neuen Konzept spielen neben den Nurses die Mitarbeitenden am Muskelzentrum: «Wer nicht die Empathie hat für die ALS-Patienten, der hält es hier nicht aus», sagt Markus Weber. «Es ist ein Geben und Nehmen. Wer nicht diese Bereitschaft mit sich bringt, der geht. Alle Teammitglieder sind so. Das beginnt schon im Sekretariat, alle haben sie eine grosse Empathie, ein grosses Interesse an unseren Patienten.» Aber das Team muss sich abgrenzen. «Wir sehen die Kranken kommen und gehen. Das tut weh. Trotzdem: Ich kann nicht mit jedem Patienten mitsterben.»

Das Leben gewinnt immer wieder neue Qualitäten

Was ist das Schlimmste für Betroffene, für die Erkrankten: «Es ist die nahende Behinderung und die damit einhergehende Hilflosigkeit. Schlimm natürlich die nahende Endlichkeit. Der Tod.» Markus Weber weist darauf hin, dass bei den meisten ALS-Kranken ein permanenter Perspektivenwechsel statt findet. «Irgendwann ist der Rollstuhl, die Ernährungssonde, die Atemmaske normal. Und dieses Leben gewinnt immer wieder eine neue Qualität.»

ALS-Patienten können friedlich sterben

Markus Weber legt Wert auf die Feststellung, dass ALS-Patienten eine gute Lebensqualität haben und friedlich sterben, wenn sie von einem Team begleitet werden. «Wer es nicht hat, bei dem geht die Lebensqualität den Bach runter». Und er betont, dass ALS-Patienten nicht qualvoll ersticken. «Sie schlafen friedlich ein. Das Zuviel an Kohlenstoffdioxid, also CO2, wirkt wie eine Narkose, daraus erwachen sie nicht.»

Mit ALS verdient niemand Geld

Das Muskelzentrum in St. Gallen betreut die Hälfte aller Patienten in der Schweiz. «Wir sind das einzige Zentrum im Land, das forscht. Eingebettet in die weltweite Forschungskommune. Wir sind präsent, publizieren, kommunizieren.» Markus Weber redet von klinischer Forschung. «Unsere Patienten machen alles mit, weil sie sich gut aufgehoben fühlen. Kein Wunder haben wir die grösste Autopsiesammlung der Welt. Wir besprechen offen mit den Betroffenen, ob sie ihren Körper für die Autopsie zur Verfügung zu stellen.»

Forschung bringt Reputation

Geld verdient mit ALS niemand. Im Gegenteil. Die Nurses werden zum Teil von der Muskelgesellschaft finanziert, die Forschung von der ALS-Stiftung, vom Schweizer Nationalfonds und anderen Institutionen «Zudem unterstützt uns die Geschäftsleitung des Kantonsspitals.» Der Arzt schweigt. Legt die Finger aneinander, spreizt sie. «Geld ist eine Sache, Reputation die andere.» Die holen sich die St. Galler auch in der Forschung: «Wir testen neue Methoden mit denen die Wirksamkeit neuer Medikament nachgewiesen werden kann. In naher Zukunft können wir hoffentlich bei vererbter ALS ein krankmachendes Gen mittels Chemie gezielt ausschalten. Wirkt das Medikament, kann die Krankheit die Nerven nicht mehr weiter zerstören.»

Text und Foto: Martin Schuppli

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DeinAdieu berichtete bereits mit mehreren Beiträgen über ALS

22. April 2016. Dorette Lüdi: ALS ist ein Horror
27. Mai 2016. Ihre Mutter hat ALS: «Wir geniessen die verbleibende Zeit»
1, Juli 2016. Anna Rossinelli spielte für ALS-Kranke

4 Antworten auf „Prof. Markus Weber: «ALS-Diagnose ist keine Hexerei»“

Ursula Kratzer sagt:

Ich werde genau so gut betreut vom Unispital in Basel zusammen mit der Rehab. Könnte mir keine bessere Betreuung vorstellen.

Dorette Lüdi sagt:

Danke lieber Martin und ganz speziellen Dank dem ganzen Team in St. Gallen

Sandra Kirschbaum sagt:

Darf ich fragen wer dieser Arzt des Unispitals war, der diese Aussage gemacht hat? Bin selbst dort wegen evtl. ALS in Behandlung/Folter und bin auch eher enttäuscht von der Uni ZH. Allerdings bin ich leider erst 30ig. Mein Problem ist, dass die Diagnose noch nicht fixiert ist. Es ist keine Hexerei? Dann Frage ich mich, was die seit acht Monaten mit mir machen …
Danke für die Rückmeldung.

Martin Schuppli sagt:

Liebe Sandra Kirschbaum
es tut mir unendlich leid, dass Sie diesen Leidensweg begehen müssen. Ich wünsche Ihnen viel Kraft.
Den Namen des Arztes kennt nur die Betroffene. Und das soll auch so bleiben.
Das heisst aber nicht, dass Sie ein Martyrium erleben müssen, bis die Diagnose steht. Ich rate Ihnen dringend, melden Sie sich im Muskelzentrum am Kantonsspital St. Gallen. Alle nötigen Angaben finden Sie oben in der Infobox.
Es ist Ihr gutes Recht, dass Sie eine Zweitmeinung einholen. Spitäler und Ärzte erbringen eine Dienstleistung, die Sie, resp. die Krankenkasse bezahlen. Wer nicht zufrieden ist, wechselt den Anbieter. Machen Sie das.
Ich garantiere Ihnen, dass Sie bei Prof. Markus Weber und seinem Team in den besten Händen sind. Freundliche Grüsse und beste Wünsche für Sie und für Ihre Gesundheit. Martin Schuppli, Autor DeinAdieu.ch

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