«Die Hunde retten auf Schritt und Tritt ihr Leben»

Baustellen, Strassen, Absätze: Ohne Blindenführhunde könnten viele sehbehinderte und blinde Menschen ihren Alltag kaum meistern. An der Ostschweizerischen Blindenführhundeschule in Goldach werden sie dafür ausgebildet. Geschäftsführer Jorge Moreno erzählt, was ein Hund dafür mitbringen muss und warum die Stiftung nach Ausbruch der Pandemie auf noch mehr finanzielle Unterstützung angewiesen ist.

Die Hunde Emma und Enja begrüssen einen, noch bevor Jorge Moreno die Glastür öffnet. Sie sind es auch, welche den Besuchern den Weg in den ersten Stock weisen, wo Morenos Büro liegt. Auf dem Regal sitzen Plüschhunde mit Blindenführhundegeschirr, draussen schneit es, der Nebel liegt dick über dem Bodensee, als der gebürtige Mexikaner über seine Arbeit zu erzählen beginnt. Jorge Moreno hat die Stiftung Ostschweizerische Blindenführhundeschule in Goldach 1997 gegründet. Für seine Arbeit als eidgenössisch diplomierter Blindenführhundeinstruktor und Orientierungs- und Mobilitätslehrer brauche er nicht nur viel Wissen über Kynologie – die Lehre der Rassen, Zucht, Pflege und die Erziehung von Hunden – sondern auch Wissen über Augenkrankheiten, Sehbehinderungen und Psychologie.

Bevor ein Hund einen Menschen mit Sehbehinderung begleiten kann, muss er mehrere Phasen durchlaufen. Die Stiftung arbeitet mit verschiedenen Züchtern im In- und Ausland zusammen. «Wir besuchen die Welpen kurz nach der Geburt, schauen ihr Wesen an, ihre Neugier und Intelligenz», sagt Moreno. Ein Blindenführhund müsse selbstbewusst und sicher auftreten, ängstliche Wesen seien für den Job ungeeignet. Nach gut zehn Wochen kommen die Hunde zu Patenfamilien, welche die Stiftung ebenfalls ausliest. Die Junghundetrainingsphase beginnt. Während dieser Zeit, die etwa eineinhalb Jahre dauert, soll der Hund möglichst viel Umwelterfahrung machen, in Bussen, Trams und Taxis fahren, Baustellen erleben, Menschengedränge. 

Während der darauffolgenden Ausbildungsphase absolviert er dann mit den Instruktoren der Blindenführhundeschule mehrere hundert Trainingsstunden. «Viele denken, es seien arme Hunde. Dabei arbeiten sie gerne», sagt Moreno. Tatsächlich arbeitet der Hund etwa drei Stunden täglich, die restliche Zeit dürfe er sich wie ein Hund verhalten, etwa spielen und mit anderen Hunden herumtoben. Den Tieren werden mindestens 36 Hörsignale und Befehle beigebracht. Und zwar auf Italienisch, denn die Kommandos in dieser Sprache mit vielen Vokalen verstehen die Hunde besonders gut. Sie lernen, Zebrastreifen, Ampeln, Geldautomaten und Briefkästen zu suchen und Hindernisse wie Abfalleimer oder abgestellte Velos anzuzeigen oder zu umgehen.

Die erste offizielle Prüfung, welche vom Bundesamt für Sozialversicherungen begleitet wird, werde häufig in Zürich durchgeführt. «Dort ist der Mix an Lärm, Gerüchen und Hindernissen am intensivsten», sagt Moreno. Er oder ein Mitarbeiter lassen sich vom Hund etwa vom Hauptbahnhof zum Bellevue führen, ein Expertenteam prüft, ob alles korrekt abläuft. «Jeder Schritt kann für eine sehbehinderte Person lebensgefährlich sein. Die Hunde ersetzen ihr buchstäblich das Augenlicht und retten ihr auf Schritt und Tritt das Leben», sagt Moreno.

Nicht jeder Hund eignet sich für jede Sehbehinderung

Nach der Prüfung erst erfolgt der Kontakt zu einer blinden Person und damit die Einführungsphase. «Die Chemie zwischen Hund und Mensch muss stimmen», sagt Moreno. Der Hund müsse nicht nur dem Menschen gerecht werden, sondern auch der Mensch dem Hund. Eine ältere Person etwa, die sich selten bewegt, komme für einen jungen Hund nicht infrage. Andererseits komme für einen Allergiker etwa nur ein Königspudel als Hund infrage, da dieser wenig Haare lasse.

Bis zu diesem Zeitpunkt hat die Ausbildung und Betreuung des Hundes zwischen 60’000 und 70’000 Franken gekostet. «Eine grosse Summe, die nur dank Spenden zusammenkommt», sagt Moreno. Geld komme nicht nur von Sehbehinderten oder deren Angehörigen und Hundeliebhabern, sondern auch von Privatpersonen. Die öffentliche Hand zahlt nichts an die Ausbildung der Begleiter. Erst, wenn der Blindenführhund bei der sehbehinderten oder blinden Person eingeführt ist und er die zweite Prüfung, die Gespannprüfung, bestanden hat, bezahlt die Invalidenversicherung einmalig 10’000 Franken und danach 350 Franken in Form einer monatlichen Miete. «Je nachdem, wie lange ein Hund als Blindenführhund arbeiten kann, erhalten wir maximal die Hälfte der Ausbildungskosten zurückerstattet», sagt Moreno. Er betont aber, der Hund sei kein Geldbeutel und werde spätestens mit zehn Jahren pensioniert. 

Spendengelder drastisch zurückgegangen

Die derzeitige Coronakrise macht dem Geschäftsführer der Stiftung jedoch Sorgen. Nicht nur wurden die Trainings an öffentlichen Orten wegen der Einschränkungen erschwert. Sondern vor allem sind Gönner und Patenfamilien rar geworden. «Viele spenden lieber für Menschen als für die Ausbildung von Hunden.» Zudem hätten sich viele während des Lockdowns einen Welpen angeschafft, weshalb nun auch der Nachwuchs an Blindenführhunden fehle. 

Moreno hofft deshalb auch auf Legate, die in den letzten 25 Jahren nur gerade zehn ausmachten. Denn auch die Nachbetreuung der Tiere koste Geld. «Ich hoffe, dass durch deinadieu.ch mehr Leute sehen, wie wichtig unsere Arbeit ist», sagt Moreno. Mittlerweile ist er mit Enja nach Rorschach gefahren. Bald wird der zweijährige Labrador Retriever, im Jahresbericht als «verschmustes Schlitzohr» beschrieben, eine sehbehinderte Person begleiten. «Zebra», sagt Moreno. Der Hund zottelt los, führt seinen Begleiter sicher an parkierten Autos und Christbäumen vorbei, setzt sich vor dem Fussgängerstreifen hin und schaut zu ihm hoch. Dann überqueren beide die Strasse.


Die Ostschweizerische Blindenführhundeschule in Goldach ist die kleinste von vier Blindenführhundeschulen in der Schweiz. Sie ist hauptsächlich auf Spenden angewiesen, denn die öffentliche Hand zahlt nichts an die Ausbildung eines Blindenführhundes. Diese dauert etwa zweieinhalb Jahre und kostet rund 70’000 Franken. Die Invalidenversicherung bezahlt erst nach bestandener Prüfung einmalig 10’000 Franken und danach eine monatliche Miete an die Stiftung, was im Verlauf eines Hundelebens nur 30 bis 40 Prozent der Kosten entspricht. Im vergangenen Jahr waren 38 ausgebildete Blindenführhunde im Einsatz, zehn Junghunde in Patenfamilien, vier in Ausbildung, zwei im Einführungslehrgang und fünf bestanden die Gespannprüfungen.

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