Diagnose Alzheimer: «Es ist ein Abschiednehmen auf Raten»

Plötzlich findet Robert Kuhn, Doktor in Chemie, den Weg zur Metro nicht mehr, plötzlich fehlen beim Chinesischsprechen die Wörter in seinem Kopf. Wie die Diagnose Alzheimer sein Leben und das seiner Frau Ruth verändert hat.

Als Robert Kuhn im Januar 2019 aus China zurückkehrt, hat auch sein Sohn gemerkt, dass etwas nicht stimmt. «Was ist los mit Vater?», fragt er seine Mutter, Ruth Kuhn, am Telefon. Robert Kuhn, Doktor in Chemie, der eine leitende Funktion bei der Firma Novartis innehat und für wichtige Projekte in China verantwortlich ist, findet den Weg zur Metro in Shanghai nicht mehr. Er, der in China eine Fabrik aufgebaut, fliessend Englisch und gut Chinesisch gesprochen hat, findet die chinesischen Wörter in seinem Kopf nicht mehr. Bereits im November 2018 war Kuhn zum Hausarzt gegangen, weil er die Dinge plötzlich vergass. Es dauert ein halbes Jahr, bis eine Reihe von Tests schliesslich die Gewissheit bringt: Alzheimer. «Jetzt ändert sich unser Leben», habe sie gedacht, sagt Ruth Kuhn.

Sie und ihr Mann sitzen an einem Tisch im «Lattich» beim Güterbahnhof St. Gallen, wo der Verein Mosaik von Demenz betroffenen Menschen eine Tagesstruktur bietet. Hierher kommt Robert Kuhn dreimal wöchentlich zum Malen, Kochen, Klavierspielen. Hier holt ihn jemand ab, sagt ihm, wann er sich für eine Pause hinlegen soll, wann es Zeit ist, wieder auf den Zug zu gehen. Weil alles andere, das sein Leben war, langsam verblasst. Weil alles, das er jetzt tut, andere für ihn planen müssen.

Robert Kuhn, wie war es, als Sie die Diagnose erhielten? Was haben Sie als Chemiker in China genau gemacht? Wie gehen Sie mit der Krankheit um? Man erhält keine Antworten mehr von Robert Kuhn, mitten im Satz hält er inne, schaut auf seine Hände oder ins Leere. Er lächelt, nickt oder schüttelt den Kopf. Er findet die Worte nicht mehr, die Sätze beendet seine Frau, sie ist seine Stütze, wie eine Prothese, die bei jeder Bewegung hilft, damit er weiter funktionieren kann, noch etwas bleibt von ihm.

Sie verkauften das Haus und zogen in eine Wohnung

Die Diagnose war ein Schock, sagt Ruth Kuhn. «Wir riefen unsere Tochter an, sie brach zusammen.» Später traf sich die Familie zum Minigolf spielen. «Wie zum Trotz öffneten wir eine Flasche Wein und feierten das Leben, so wie es zu diesem Zeitpunkt für uns war», sagt sie. Es klingt tapfer. Schnell war klar, dass sie aus dem Haus im baslerischen Duggingen ausziehen mussten, nämlich, solange Robert Kuhn noch in der Lage war, den Kaufvertrag zu unterschreiben. Arbeiten ging nicht mehr, als 60-Jähriger wurde Kuhn frühpensioniert. Das Paar aus Trogen, seit 37 Jahren verheiratet, kehrte heim nach Appenzell, wo sie die meisten Freunde haben, eine übersichtliche Wohnung fanden und gute ÖV-Verbindungen garantieren, am Leben so selbstständig wie möglich teilzunehmen.

Das Paar verkaufte das Haus in Basel und zog nach Appenzell, wo die meisten Freunde wohnen.

Ruth Kuhn holte «überall» Hilfe, trifft sich einmal monatlich mit anderen Angehörigen zum Austausch. Und sie schaut, dass ihr Mann sich bewegt. Sie geht mit ihm ins Fitness, auf Spaziergänge, Velofahren. «Lange ging es noch gut», sagt sie. Immerhin leide ihr Mann nicht unter weiteren Nebenwirkungen, er sei weder depressiv noch aggressiv. Doch zu beschönigen gebe es nichts. «Es ist eine schlimme Krankheit. Es wird nicht besser, einfach nie mehr, man muss jeden Tag so nehmen, wie er ist», sagt sie. Und: «Ich musste lernen, die Gedanken an Hoffnung seinzulassen. Meinen Mann nicht mehr in Entscheidungen zu involvieren.» Was von ihnen bleibt, sind Erinnerungen, die immer häufiger nur noch Ruth Kuhns Erinnerungen sind. Oft schaut sie mit ihrem Mann Fotos von früher an. «Es ist ein Abschiednehmen auf Raten», sagt Ruth Kuhn.

Häufig schaut Ruth Kuhn mit ihrem Mann Fotos von früher an. Immer häufiger sind es nur noch Erinnerungen von ihr.

Und fasst sich gleich wieder. Sie sei dankbar, dass er so vieles noch mitmache. «Gell», sagt sie zu ihm, fasst nach seiner Hand, er lächelt. In den letzten Jahren haben sie einige Reisen zusammen unternommen. Ruth Kuhn, die ihre KV-Ausbildung auf einem Reisebüro in St. Gallen gemacht hatte, buchte Wanderferien auf Madeira. Und sie flog noch einmal mit ihrem Mann nach Südamerika, Ushuaia, ans Ende der Welt. Der Flug nach Thailand im Januar dieses Jahres entpuppte sich allerdings als das Schlimmste, was sie bisher erlebt habe. Ihr Mann wollte über den Wolken plötzlich aussteigen, habe an der Flugzeugtür gehebelt, stundenlang musste sie ihn beruhigen.

«Ich habe nicht mehr so viel Geduld»

Ruth Kuhn, 69-jährig, die sich früher in der Ehe ums Sozialleben gekümmert hat, wie sie sagt, ist plötzlich zuständig fürs Finanzielle. Sie, die sich um die Kinder gekümmert hat, kümmert sich jetzt um ihren Mann. 24 Stunden am Tag. «Jetzt merke ich, dass ich auch zu mir schauen muss», sagt sie. An diesem Morgen hat ihr Mann um 6 Uhr in der Früh das schmutzige Geschirr aus der Maschine geräumt und in den Schränken verstaut. «Ich habe nicht mehr so viel Geduld.»

Im Atelier der Tagesstruktur hängen Robert Kuhns Bilder. Verschlungene Striche in Wasserfarbe. Sie erinnern an chinesische Zeichen, die durcheinander gewirbelt wurden. Robert Kuhn erklärt seine Bilder. Was er tatsächlich sagen möchte, lässt sich nur erahnen. Der Schlüssel zu seinem Wissensschatz ist verloren gegangen.

Alzheimer Schweiz

Der Verein Alzheimer Schweiz und seine 21 Sektionen informieren, beraten und unterstützen Menschen mit Demenz und deren Angehörige. So gibt es niederschwellige Angebote wie etwa ein Beratungstelefon. Der Verein organisiert auch Gesprächsgruppen für Menschen mit Demenz oder für Angehörige, Kurse und Schulungstage sowie Ferien mit Entlastungsmöglichkeiten. Auch Ruth Kuhn und ihre Familie holten sich Hilfe bei Alzheimer Schweiz. «Alzheimer St. Gallen/beider Appenzell hat uns sehr geholfen und unterstützt uns immer noch», sagt Ruth Kuhn.

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