Angela Grossmann: «Von sogenannt Behinderten kann ich viel lernen»

Fröhliche Momente waren rar in den beiden vergangenen Monaten. Hätte ich sie gesucht, weiss ich nicht, ob ich fündig geworden wäre. Es war also ein Glückmoment, der mit Lachen und Gigele begann. Ein Moment, der mir und Fotograf Paolo Foschini Unbeschwertheit und Fröhlichkeit schenkte, uns zu einer wunderbaren Begegnung verhalf.

Für den Fototermin mit Angela Grossmann, Geschäftsführerin der Stiftung Vivendra, fuhren wir ins Zürcher Unterland nach Dielsdorf, installierten uns im Gasthaus «Sonne» und trafen neben der Interviewpartnerin auf Laura und Luna. Die Frauen mit Unterstützungsbedarf arbeiten im Service des Restaurants und werden betreut von Gastroprofis sowie Arbeitsagogen. Sie bewirten Gäste, erledigen Bestellungen, kassieren ein. Sie erklären das Tagesmenü, beraten bei der Auswahl von Getränken sowie bei der Reihenfolge der Speisen. Und das machen beide mit einer entwaffnenden Herzlichkeit.

Die «Sonne» ein Leuchtturmprojekt

Angela Grossmann freut unsere Begeisterung. Neben dem Gasthaus sind der «Sunne»-Laden sowie die Schule «15plus» im stattlichen Gebäude untergebracht. Sie bietet Jugendlichen eine individuelle, schulische und lebenspraktische Föderung an sowie Unterstützung in der Berufsfindung und im Erwachsenwerden. «Mit den Angeboten in der Sonne ermöglichen wir unseren Klientinnen und Klienten eine aktive Teilhabe an verschiedenen Aktivitäten mit direktem Kundenkontakt. Das macht die Sonne zu einem integrativen Projekt», sagt Angela Grossmann.

Luna, Angela Grossmann, Martin Schuppli
Mit ihrer fröhlichen Art begeistert Luna die Gäste. Angela Grossmann (M.) und Martin Schuppli geniessen den Moment unbeschwerter Freude. (Foto: Paolo Foschini)

Mit Spenden nachhaltiges Angebot weiterführen

Wichtig zu wissen: Das Gasthaus ist primär nicht subventioniert, und die Stiftung betreibt es auf eigenes Risiko. «Wir leisten damit einen wichtigen Beitrag in der Gesellschaft und sind gerade hier auf Spenden angewiesen. Die Sonne ist immer noch defizitär und Corona hat diese Situation verschärft. Wir brauchen Hilfe, also Spenden, damit dieses Angebot nachhaltig weitergeführt wird.»

Die Stiftung Vivendra, 1965 als «Stiftung Schulheim Dielsdorf für cerebral Gelähmte» gegründet, sorgt in ihren Einrichtungen für Lebensqualität und fördert eine ganzheitliche Entwicklung sowie Integration. Sie legt Wert auf physisches und psychisches Wohlbefinden, bietet Raum für Lernen, Wohnen, Ausbildung, Arbeit, Freizeit und Kultur. Die Menschen, die im Schulinternat oder Wohnheim aufgenommen sind, finden in der Stiftung Vivendra ein Zuhause in sozialer Gemeinschaft. Bildung, Therapie, Betreuung und Pflege sind den individuellen Bedürfnissen angepasst. So stehts im Leitbild.

Angela Grossmann nickt. Sie arbeitet seit 2009 in der Stiftung, seit 2018 als Geschäftsführerin: «Gelernt habe ich Krankenschwester, später studierte ich in Hamburg Sozialpädagogik. Während des Studiums habe ich immer als Krankenschwester gearbeitet. Der Beruf machte Freude, und ich kann mich nicht erinnern, dass mir je etwas zu viel wurde.»

Angela Grossmann
«Ich kann sehr viel lernen von diesen sogenannt behinderten Menschen», sagt Angela Grossmann. (Foto: Paolo Foschini)

Ethische Themen interessierten immer mehr

Nach dem Studium in Hamburg zügelte Angela Grossmann in die Schweiz. Sie habe sich damals dem Beruf der Krankenschwester näher gefühlt als dem der Sozialpädagogin. Und so begann sie im Universitätsspital Zürich auf der Herzchirurgie zu arbeiten. Sie habe in dieser Zeit diverse Fach- und Managementausbildungen absolvierte und sei mit grosser Leidenschaft dabei gewesen. Mit der Zeit habe sie sich für ethische Themen interessiert sowie sich in der klinikinternen Ethikgruppe im Qualitätszirkel engagiert und Führungsfunktionen übernommen.

«Ich kam vermehrt in Kontakt mit Menschen mit Behinderung, die aufgrund von Herzfehlern im USZ operiert wurden. Der Wunsch in mir wurde grösser, mich mit Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung auseinanderzusetzen», sagt Angela Grossmann.

«Vielleicht sind wir ‹Normalen› manchmal viel eingeschränkter»

Mir ist bewusst», sagt Angela Grossmann, «ich kann sehr viel lernen von diesen sogenannt behinderten Menschen. Ich lerne Menschen kennen, die mit dem Herzen ‹sehen›. So wie das Antoine de Saint-Exupéry in ‹Der kleine Prinz› geschrieben hat. Mit dem Herzen sehen ist eine andere Wahrnehmung und nicht eine Wahrnehmungs-Einschränkung.» Sie macht eine Pause. Lässt die Worte wirken und sagt dann: «Vielleicht sind wir sogenannt Normalen manchmal viel eingeschränkter in mancherlei Hinsicht.»

Gefragt nach einem Herzenswunsch, sagt Angela Grossmann: «Wir sollten uns wirklich engagieren für Menschen, die sich in unserer «Hochglanzwelt» nicht so schillernd in Szene setzen können, die nicht so privilegiert sind, die vielleicht weniger Glück im Leben hatten und weniger Lobby haben.» Kurze Pause. Dann hängt sie gleich an, womit sie Mühe hat: «Schubladendenken, Stigmatisierungen, Vorurteile, Generalisierungen.»

Angela Grossman, Geschäftsführerin Vivendra, Dielsdoirf ZH
Angela Grossman: «Wir machen den Bewohnerinnen, den Bewohner Angebote nach bestem Wissen und Gewissen und das ist ein permanenter Prozess von Reflexion, Dialog und Auseinandersetzung.» (Foto: Paolo Foschini)

Wer ist denn normal?

Nochmals streifen wir das Thema «wer ist denn normal?». Angela Grossmann hat Mühe mit dem Begriff «Normalisierungsprinzip». Sie frage sich, wer denn die Definitionsmacht habe, zu sagen was normal sei und was nicht. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Aussenwohngruppen etwa brauchen weniger Unterstützung, und so heisse es für sie und ihr Team, sich immer wieder zu fragen: Welche Form von Unterstützung und Begleitung ist adäquat?

«Es gibt sogenannte ‹Sekundärbehinderungen›», sagt Angela Grossmann und präzisiert: «Ich formuliere das einmal etwas spitz. Menschen werden ‹behindert› gemacht, weil man ihnen zu viel abnimmt oder zu wenig zutraut. Es gibt viele Spannungsfelder und Gratwanderungen in der Arbeit für und mit Behinderten.»

Angela Grossmann: «Wir machen Angebote nach bestem Wissen und Gewissen und das ist ein permanenter Prozess von Reflexion, Dialog und Auseinandersetzung». «Wir ermöglichen Kommunikation und unterstützen Kommunikation. Das heisst, wir versuchen, allen die Möglichkeit zu geben, sich auszudrücken. Und das ist häufig ein Schritt und Schlüssel zu Selbständigkeit, zu Selbstbestimmung und Chancengleichheit.» Dabei würden alle zur Verfügung stehenden Äusserungs-und Mitteilungsmöglichkeiten miteinbezogen: Mimik, Gestik, Körpersprache, Gebärden, Stimme, Laute, elektronische und nicht elektronische Hilfsmittel.

In der interdisziplinären Zusammenarbeit sei es sehr wichtig, sich gut abzustimmen. Dabei spielten auch die Angehörigen eine wichtige Rolle. Angela Grossmann: «Wir haben vor ein paar Jahren eine Stiftungsband gegründet und konnten sogar einige Auftritte organisieren. Es war toll zu sehen, wie jede und jeder völlig unabhängig vom Behinderungsgrad daran teilnehmen konnte. Die Gemeinschaft und das Leben in der Gemeinschaft ist eine grosse Ressource. Davon können wir – die sogenannt Gesunden oder die Normalen – viel lernen.

Beeindruckt haben mich auch immer wieder schwere Krankheitsverläufe und die Fähigkeit zur Krankheitsbewältigung oder die Fähigkeit, Abschiede zu bewältigen.»

Angela Grossmann, Geschäftsführerin der Stiftung Vivendra
Angela Grossmann: «Wir haben vor ein paar Jahren eine Stiftungsband gegründet und konnten sogar einige Auftritte organisieren. Es war toll zu sehen, wie jede und jeder völlig unabhängig vom Behinderungsgrad daran teilnehmen konnte.» (Foto: Paolo Foschini)

Den Tod als Finale des Lebens verstehen

Und wie gehen Sie damit um, Menschen zu betreuen, die schwerbehindert und/oder sterbenskrank sind. Was macht das nah erlebte Sterben mit Ihnen?
Ich würde behaupten, speziell diese beiden Themen habe ich als Teil des Lebens integriert und akzeptiert. Mir gefällt die Bezeichnung: der Mensch ist final oder präfinal. Das heisst für mich im Finale des Lebens, das grosse Orchester, der grosse Paukenschlag.»

Was heisst das?
Ich setze mich für eine Begleitung ein, die dem Wunsch und dem Leben des Menschen entspricht, der da geht – das darf auch unkonventionell sein.

Für Angehörige und/oder Belgleitpersonen ist das oft nicht so einfach auszuhalten, denke ich.
Stimmt. Wir haben oft Vorstellungen, dass der Tod und die Sterbebegleitung händchenhaltend, friedlich und bei Kerzenschein passiere. Das ist aber nicht so oder nicht immer. Jeder stirbt seinen eignen Tod.

Angela Grossmann, Geschäftsführerin der Stiftung Vivendra
Angela Grossmann: «Wir orientieren uns am Grundsatz, Bewohnerinnen und Bewohner können hier alt werden. Wir können allerdings den Verbleib bis zum Tod nicht unter allen Umständen garantieren.» (Foto: Paolo Foschini)

«Wir versuchen, alles Mögliche möglich zu machen»

Die Bewohnerinnen, Bewohner können in der Stiftung leben, bis sie ihre letzte Reise antreten. Vivendra bieten Ihnen ein Zuhause, eine hohe Lebensqualität. Die Stiftung sorgt für Bildung, bietet Arbeits- und Wohnplätze. Angela Grossmann, wie finanzieren Sie dieses umfangreiche Angebot?
Wir finanzieren uns hauptsächlich über kantonale Betriebsbeiträge, über Beiträge von Gemeinden, Erträge aus Dienstleistungen sowie Spenden. Sie spielen eine grosse Rolle. Damit können wir Angebote ermöglichen, die nicht über Staatsbeiträge abgedeckt sind. Zum Beispiel: Spezielle Projekte oder Anschaffungen, Ausflüge und/oder Ferienlager, Anschaffungen von Hilfsmitteln, die nicht durch die IV finanziert werden sowie die Sicherstellung einer behindertengerechten Infrastruktur.

Bewohnerinnen, Bewohner können bis zum Lebensende in der Stiftung bleiben.
Ja. Wir orientieren uns am Grundsatz, Bewohnerinnen und Bewohner können hier alt werden. Die Stiftung ist jedoch keine Pflegeinstitution im eigentlichen Sinne. Wir können daher den Verbleib bis zum Tod nicht unter allen Umständen garantieren. Wir haben überwiegend agogisches Personal und können allfällige Pflegeleistungen nicht über das Krankenversicherungsgesetz KVG abrechnen. Aber wir versuchen, alles Mögliche möglich zu machen.»

Angela Grossmann, wir beide wissen, das Leben ist endlich. Es kann jederzeit zu Ende sein. Beeinflusst dieses Wissen Ihren Alltag, Ihren Umgang mit Liebsten, mit Freundinnen, Freunden?
Mal mehr und mal weniger. Sich selbst nicht immer so wichtig nehmen, mehr Gelassenheit, loslassen können. Ich bin manchmal ‹neugierig› auf den Moment des eigenen Sterbens, ich weiss: Das wird irgendwann der Fall sein, wie wird es sich anfühlen? Es bleibt ein grosses Mysterium.

Der eigene Tod ist mal das Eine …
… genau. Im Sinne von: Den eigenen Tod, den stirbt man nur, und mit dem Tod der anderen muss man weiterleben. Ich habe eher Angst vor dem Tod geliebter Menschen um mich herum.

Angela Grossmann, Geschäftsführerin der Stiftung Vivendra
Im Gespräch: Angela Grossmann, Geschäftsführerin Vivendra und DeinAdieu-Autor Martin Schuppli. (Foto: Paolo Foschini)

Und das «letzte Büro», haben Sie es gemacht?
Ja – ich habe drei Personen bestimmt, denen ich vertraue, die mich sehr gut kennen und die für mich entscheiden werden, wenn ich das selbst nicht mehr kann. Das ist eine sogenannte «Werteverfügung». Ich möchte nicht, dass diese Bürde eine Person alleine trägt und daher sind es drei Personen, die sich alle kennen und von denen ich weiss, dass sie sich in meinem Interessen einsetzen werden – für den Fall der Fälle.

Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini

Infobox

Die Stiftung Vivendra in Dielsdorf ZH ist Partner von DeinAdieu. Das Profil

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