«In diesem Moment wusste ich: Ich könnte mein Leben lang Moleküle wie dieses betrachten, um zu verstehen, was sie tun»

Eigentlich wollte Paola Picotti Ärztin werden. Doch weil ihr menschliches Leid zu nah geht, hat sie sich stattdessen der Erforschung von Krankheiten verschrieben. Mit der von ihr an der ETH Zürich entwickelten Technologie sollen etwa Alzheimer oder Parkinson frühzeitig erkannt und behandelt werden.

Mit ihrer Forschungsgruppe an der ETH Zürich hat die Paola Picotti eine Methode zur Proteinanalyse entwickelt, die heute weltweit angewandt wird. Bilder: Djamila Grossman

Womit beschäftigt sich Ihre Forschungsgruppe an der ETH Zürich derzeit?

Wir erforschen neurodegenerative Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer und untersuchen dafür die molekularen Grundlagen der Krankheiten. Ziel ist es, die Mechanismen der Krankheiten zu identifizieren und neue pharmakologische Ansätze zu finden. Wir entwickeln auch Ansätze für die nicht invasive und genaue Diagnose der Erkrankungen.

Sie haben ein biochemisches Verfahren entwickelt, um die strukturellen Veränderungen von Tausenden von Proteinen gleichzeitig nachzuweisen. Wie genau funktioniert es?

Die von uns entwickelte Technologie ermöglicht es, Proteine, die Hauptregulatoren biologischer Prozesse in unserem Körper, auf eine völlig neue Weise zu untersuchen. Bisherige Methoden erlaubten es, Veränderungen von Proteinkonzentrationen in biologischen Proben von Patienten zu messen, die bei der Entwicklung von Krankheiten eine Rolle spielen. Mit unserer Technologie erkennen wir Veränderungen für Tausende verschiedene Proteine gleichzeitig, die auf eine Krankheit hinweisen können. So haben wir kürzlich etwa 75 neue Proteine identifiziert, die bei der Parkinson-Krankheit ihre Form verändern und die als Biomarker zum Nachweis der Krankheit dienen können. Das gleiche Konzept lässt sich aber auch auf jede andere Krankheit anwenden. Es birgt ein grosses Potenzial, um Krankheitsmechanismen zu untersuchen, neue Medikamente und diagnostische Ansätze zu entwickeln.

Wann haben Sie realisiert, wo Ihr primäres Forschungsinteresse liegt?

Ich erinnere mich an einen Moment während meines Masterstudiums an der Universität von Padua in Italien. Ich besuchte eine Biochemievorlesung, und der Dozent zeigte uns ein Bild einer gigantischen Proteinstruktur: Es war das Enzym ATP Synthase, ein entscheidender Regulator der Energieproduktion in unseren Zellen. Ich war äusserst fasziniert: Diese Proteinstruktur sah komplex, rätselhaft und schön zugleich aus. In diesem Moment wusste ich, ich könnte mein ganzes Leben lang Moleküle wie diese betrachten, um zu verstehen, was sie tun. Schliesslich ist es genau das, was ich jetzt mache.

Proteine betrachten?

Ja, und zwar durch eine neue Art von Linse, welche meine Forschungsgruppe entwickelt.

Paola Picotti erforscht, wie Proteine funktionieren. In der Hand hält sie das Modell eines Proteins.

Welchen Beruf wollten Sie erlernen, als Sie noch ein Kind waren?

Ich wollte Ärztin werden. Als Jugendliche merkte ich jedoch, dass mich das Leid anderer sehr betroffen machte, und da dachte ich, das könnte mich bei meiner Arbeit als Ärztin behindern. Also begann ich zu forschen, um Krankheiten vorzubeugen und sie zu heilen – und das finde ich nun ebenso lohnenswert.

Sie haben bereits etliche Preise für Ihre Arbeiten erhalten. Welcher Preis hat Ihnen am meisten bedeutet und warum?

Alle Auszeichnungen, die ich erhalten habe, waren wichtige Anerkennungen für mich, die Bemühungen meiner Forschungsgruppe und meine Auszubildenden. Wenn ich mich für eine entscheiden müsste, wäre es wahrscheinlich die EMBO-Goldmedaille. Wer so eine gewinnt, gehört zu den besten Forscherinnen und Forschern über die Biowissenschaften hinaus und wird von führenden Experten in und ausserhalb Europas ausgewählt. Aber auch die beiden ERC-Stipendien, die meine Gruppe vom Europäischen Forschungsrat erhielt, waren sehr wichtige Anerkennungen für unsere Arbeit.

Im Alter von 46 Jahren haben Sie erreicht, was für andere ein Lebenswerk ist. Was möchten Sie unbedingt noch erreichen?

Ich möchte zwei Dinge erwähnen. Erstens hoffe ich, dass unsere Technologien und Entdeckungen einen direkten und greifbaren Nutzen für jene Menschen bringen, die von neurodegenerativen Krankheiten betroffen sind. Zum Beispiel versuchen wir derzeit, unsere Biomarker-Kandidaten bei einer grossen Anzahl von Personen zu validieren. Wenn dies gelingt, besteht die Chance, dass Krankheiten frühzeitig und nicht-invasiv erkannt werden können. Zweitens möchten wir die grundlegenden Prinzipien der Proteinfunktion untersuchen. In den vergangenen zwölf Jahren haben wir Daten von mehr als 30’000 verschiedenen Proteinen gesammelt. Damit erforschen wir die grundlegenden Prinzipien der Proteinstrukturdynamik. Wir lernen, wie sich Proteine bewegen, wie sie ihre Form als Reaktion auf Störungen verändern und welche Konsequenzen das hat.

Woher nehmen Sie die Inspiration für Ihre Forschung?

Mich motiviert es, die Grenzen des aktuellen Wissens zu erweitern, indem man seit langem bestehende Probleme auf völlig neue Weise angeht, neue Technologien anwendet und damit völlig neue Aspekte eines gut untersuchten Problems aufdeckt. In meiner Forschungsgruppe fördere ich eine Kultur, die Kreativität, originelles Denken und kalkulierte Risikobereitschaft zulässt. Es ist auch sehr lohnend, mit jungen Forschenden zu interagieren und sie anzuleiten. Mir ist es wichtig, ein sicheres Arbeitsumfeld mit offener Kommunikation, Unterstützung und Respekt zu schaffen, in dem sich die Kollegen sowohl beruflich als auch persönlich weiterentwickeln können. Ich ermutige meine Teammitglieder auch, sich mit Experten aus anderen Disziplinen auszutauschen, wenn es für ihre Projekte sinnvoll ist, und an Konferenzen teilzunehmen, die nicht zu unserem Fachgebiet gehören. Ich tue dies auch selbst. Ich glaube, dass aus der Kreuzung verschiedener Fachgebiete und Denkweisen originelle Ideen entstehen.

Inwiefern war Ihr Geschlecht hinderlich oder förderlich fürs Weiterkommen in der Forschung?

Diese Frage ist mir schon oft gestellt worden, und ich habe gründlich darüber nachgedacht. Ich glaube nicht, dass mein Geschlecht meine Forschung behindert oder vorangetrieben hat. Während meiner gesamten Laufbahn hatte ich das Glück, immer von unterstützenden Kolleginnen und Kollegen sowie Mentorinnen und Mentoren umgeben zu sein. Es ist mir jedoch bewusst, dass dies nicht auf alle Forscherinnen zutrifft. Es ist natürlich wichtig, dass wir wachsam bleiben und aktiv gegen Fälle von Diskriminierung vorgehen.

Sie haben zwei Söhne, Ihr Mann arbeitet Vollzeit als Uniprofessor. Was würden Sie jungen Kolleginnen raten?

Meine Botschaft wäre, dass es möglich ist, als Mutter oder Vater sowie als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler engagiert zu sein. Darüber muss man allerdings gut planen. Die Aufteilung der Haushalts- und Kinderbetreuungsaufgaben mit dem Partner muss gleichberechtigt sein und die tägliche Arbeit oder familienbezogene Aktivitäten bis auf die Stunde genau geplant werden. Es erfordert auch eine gute Portion Ironie für Unerwartetes im Kalender! Die Zeiten ändern sich und unser Arbeitsumfeld unterstützt Forschende zunehmend, die sich um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bemühen. Ausserdem haben wir eine aussergewöhnliche zeitliche Flexibilität, was sehr hilfreich ist.

Paola Picotti

«Es ist möglich, Mutter und gleichzeitig als Wissenschaftlerin engagiert zu sein.»

Zur Person:

Paola Picotti, geboren 1977, wuchs als Tochter einer Mathematiklehrerin und eines Angestellten in einem Elektronikunternehmen in Udine nahe Triest auf. Sie studierte Biochemie an der Universität Padua. Der Umzug von Padua nach Zürich im Januar 2007, wo sie ein Post-Doktoranden-Stipendiat am Institut für Molekulare Systembiologie der ETH erhielt, war ein Entscheid für die Erforschung der Proteomik – die Gesamtheit der Proteine und ihrer Interaktionen. Das Wissen darüber gilt als Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Gesundheit. Während der vier Jahre am Institut entwickelte die junge Forscherin eine neue, auf Massenspektrometrie basierende Methode zur Proteinanalyse. Das «Selected Reaction Monitoring» (SRM), eine Proteom-​Analyse, mit der sich eine exakt definierte Auswahl an Proteinen in komplexen Analyseproben zuverlässig und in Rekordzeit bestimmen lässt, wurde 2013 vom renommierten Fachmagazin «Nature Methods» als Methode des Jahres gekürt. Heute wird sie von Biotechnologen weltweit eingesetzt und spezialisierte Unternehmen verkaufen spezifische Hard-​ und Software dafür. 2011 wurde Picotti an der ETH Zürich zur Professorin ernannt. Nun führt sie eine 20-köpfige Forschungsgruppe.

Zweimal erhielt sie eine Förderung des Europäischen Forschungsrats (ERC) und gewann 2019 die EMBO-Goldmedaille, mit der international anerkannte Leistungen in den Life Sciences ausgezeichnet werden. 2020 folgte der Rössler-Preis, die mit 200’000 Franken Preisgeld höchstdotierte Auszeichnung der ETH Zürich, ermöglicht durch eine Schenkung des ETH-Alumnus Max Rössler an die ETH Foundation. Sie ist Autorin von über 100 Publikationen, wovon viele in den bekanntesten Fachmagazinen erschienen sind. Paola Picotti ist verheiratet und Mutter zweier Söhne.

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