Kindsverlust: «Behandelt das verstorbene Kind mit Würde»

Anna Margareta Neff setzt sich dafür ein, dass Eltern, Behörden und Fachpersonen ein zu früh verstorbenes Kind würdig behandeln. «Dann können Betroffene den Kindsverlust besser verarbeiten.»

Stirbt ein Kind vor seinen Eltern, ist das ein «ausserordentlicher Fall», sagt Anna Margareta Neff. Die gebürtige Appenzellerin arbeitete zehn Jahre lang als Hebamme, Lebens- und Trauerbegleiterin an der Frauenklinik des Berner Inselspitals. Seit Sommer 2014 leitet sie die Fachstelle kindsverlust.ch.

Vorgesehen ist so ein früher Tod eines Kindes nicht. «Im Gegenteil», sagt Anna Margareta Neff, «wir rechnen damit, dass zuerst die Eltern sterben, dann die Kinder. Und diese Kinder haben beim Tod der Eltern oft noch ein langes Leben vor sich.»

Anna Margareta Neff erlebt Eltern in grossen Nöten. Etwa nach einer Fehlgeburt oder wenn der Arzt, die Ärztin keine Herztöne mehr hört, wenn das Kind im Bauch gestorben ist. Was unternimmt die erfahrene Frau in einem solchen Moment? «Als erstes und wichtigstes gilt, nicht sofort ins Handeln kommen. Wenn Eltern erfahren, dass ihr Ungeborenes krank ist oder nicht mehr lebt, kommen sie in eine Krise, erleben diese Situation als Schock.»

Kindsverlust: im Schock keine Entscheidungen treffen

In so einem Moment gilt es, Eltern zu begleiten. Sie sollen im Schock keine Entscheidungen treffen, ausser in einer Notfallsituation. Etwa dann, wenn das Leben der Mutter bedroht ist. «Erfahrungsgemäss dauert es etwa drei bis vier Tage, bis der erste Schock verebbt», sagt Anna Margareta Neff. «In dieser Zeit ist es ganz wichtig, dass Eltern nicht alleine gelassen werden. Sie brauchen eine professionelle Ansprechperson und Begleitung. Die Hebamme ist Begleiterin der Eltern während des gesamten Verlaufs. Sie ist beim Tod des Kindes die Fachfrau, die eine kontinuierliche Begleitung bietet. Leider fehlt diese Information vielen Eltern.»

Kindsverlust: Anna Margareta Neff ist Hebamme, Lebens- und Trauerbegleiterin
«Erfahrungsgemäss dauert es nach einem Kindsverlust etwa drei bis vier Tage, bis der erste Schock verebbt», sagt Anna Margareta Neff. «In dieser Zeit ist es ganz wichtig, dass Eltern nicht alleine gelassen werden.» (Foto: Daniela Friedli)

Stellt ein Arzt, eine Ärztin mittels Ultraschall fest, dass ein Kind nicht mehr lebt, besteht selten sofortiger Handlungsbedarf. Es braucht nicht unmittelbar eine Curettage, eine Ausschabung. Auch muss die Geburt nicht umgehend ausgelöst werden. «Nein, das ist nicht nötig», sagt Anna Margareta Neff. «Betroffene brauchen zuerst Zeit, um zu realisieren, was geschehen ist. Denn jetzt muss die Frau das Vertrauen in ihren Körper zurückerlangen.» Die Hebamme und Trauerbegleiterin redet jetzt ganz bestimmt. «Häufig kommen Fragen wie: ‹Wieso habe ich nichts gemerkt?› oder ‹Ich hätte doch spüren müssen, dass mein Kind im Bauch gestorben ist?›. Frauen machen sich Vorwürfe. Etwa: ‹Nicht einmal da hat mein Körper funktioniert.› ‹Die Einleitungstabletten haben nicht gewirkt, es ist nichts passiert, und dann musste noch eine Curettage gemacht werden.› Solche Schuldgefühle und Vorwürfe gehören zum Trauerprozess. Werden sie jedoch durch übereiltes Handeln verstärkt, bringen sie einen weg von den eigenen Ressourcen.»

Anna Margareta Neff schweigt, atmet durch. Friedlich ist die Stimmung auf dem Schosshalden-Friedhof. Dann fährt die erfahrene Fachfrau fort: «Abwartendes Verhalten fördert das Zu-sich-Kommen und das Wieder-handlungsfähig-Werden. Es fördert die Bereitschaft, den Prozess des Gebärens in Gang zu bringen. Dadurch kann die Frau wieder Vertrauen in ihren Körper bekommen und ihr Kind zur Welt bringen.»

Zum verstorbenen Kind eine Beziehung aufbauen

Ist ein Kind im Bauch gestorben, rät Anna Margareta Neff den Eltern, «sie sollen in Beziehung zu ihrem Kind treten, eine würdige Beziehung aufbauen». Aber was heisst das? «Ich sage den Eltern, sie sollen sich erinnern, wie es war, bevor der Arzt gesagt hat, das Kind sei gestorben oder fehlgebildet. Ich sage der Mutter, sie solle sich erinnern, was sie da gespürt habe. Welche Gefühle sie damals gehabt habe. Ich ermutige sie, ihre Hand wieder auf ihren Bauch zu legen. Ich sage ihr, dass es noch das gleiche Kind sei wie vor der Diagnose – ihr Kind.»

Mit dieser Betreuung möchte die Hebamme betroffenen Müttern, Vätern, Eltern bewusst machen, «dass dieses Kind immer ihr Kind sein wird, auch wenn es gestorben ist oder sterben wird.» Eltern sind oft auf Ermutigung angewiesen, sich ihrem Kind im Schmerz wieder zuzuwenden.

«Gebt dem verstorbenen Kind einen Namen»

Zu einer würdigen Beziehung gehört für Anna Margareta Neff, das tote Kind zu begrüssen, wenn es zur Welt kommt. «Ich rate Eltern, es anzuschauen, willkommen zu heissen. Ich rate ihnen, es zu berühren, ihm einen Namen zu geben. So erhält es einen festen Platz. Ich ermutige die Eltern, nicht vom ‹Kind› zu reden oder vom ‹Sternli›. Ich sage ihnen: ‹Gebt ihm einen richtigen Namen›.» Das sei besonders wichtig, wenn Geschwister erfahren, dass ein Baby gestorben ist, sagt Anna Margareta Neff: «Denn Kinder wollen meist als erstes wissen, wie das Baby heisse.»

Kindsverlust: Anna Margareta Neff, Hebamme, Lebens- und Trauerbegleiterin
«Ich ermutige die Frau, ein verstorbenes Kind zu gebären», sagt Anna Margareta Neff. «Ich fordere die Eltern auf, das verstorbene Kind zu berühren, es in die Arme zu nehmen, es zu halten, es mit einer Art Ritual zu begrüssen.» (Foto: Daniela Friedli)

«Würdig» hat noch viele weitere Facetten. Wie stirbt das Kind? Stirbt es in den Armen der Eltern oder alleine im Bettli? Wohin kommt das verstorbene Kind, wenn es früh in der Schwangerschaft auf die Welt gekommen ist? Entsorgt man es zusammen mit den Spitalabfällen? Oder bekommen auch fehlgeborene Kinder einen würdigen Platz in der Natur oder auf einem Friedhof?

Für Fachpersonen ist die Würde ein wichtiges Thema. Anna Margareta Neff: «Wie können wir würdig mit den verstorbenen Kindern umgehen? So, dass auch wir vor uns selber verantworten können, was wir tun. Was bedeutet es, wenn unbegründete Richtlinien in Spitälern vorschreiben, dass Eltern ihr kleines, totes Kind nicht mit nach Hause nehmen dürfen? Was bedeutet es, wenn Hebammen und Pflegefachfrauen nicht einmal fragen dürfen, ob die Eltern es mitnehmen möchten?»

Betreuung in Anspruch nehmen

Die Worte der Hebamme und Trauerbegleiterin stimmen den Autor nachdenklich. Betroffen denkt er nach, möchte wissen, warum gemeinsame Geschichten, gemeinsame Erinnerungen für Eltern so wichtig sein sollen. Anna Margareta Neff erklärts: «Stirbt ein Kind im Bauch der Mutter oder in der Zeit um die Geburt, existieren noch kaum gemeinsame Geschichten, Erlebnisse, Erfahrungen. Auch kennen die nächsten Menschen im Umfeld dieses Kind nicht, etwa Götti, Gotte, Grosseltern, Onkel, Tanten. In so einem Fall ist gemeinsames Trauern schwierig und darunter leiden die Eltern am meisten. Sie fühlen sich ‹allein gelassen›.»

In diesen Momenten ist es hilfreich, Betreuung in Anspruch zu nehmen. Hilfe zu holen. Denn die gemeinsam gelebte Zeit, das bewusst Gestaltete, die Begegnung mit ihrem Kind beeinflusst massgeblich, wie eine Mutter, ein Vater, wie Eltern mit dem Tod ihres Kindes weiterleben können. Frau und Mann brauchen Erfahrungen, wo sie sich als Eltern erleben, wo sie erfahren können, dass sie Eltern geworden sind.

Die Geburt ist Teil der gemeinsamen Geschichte

Aber was heisst das konkret? «Ich ermutige die Frau, ein verstorbenes Kind zu gebären», sagt Anna Margareta Neff. «Ich fordere die Eltern auf, das verstorbene Kind zu berühren, es in die Arme zu nehmen, es zu halten, es mit einer Art Ritual zu begrüssen. Der Vater soll die Möglichkeit bekommen, sein Kind zu waschen, zu baden. Ich rate Eltern, dem Kind selbstgenähte Kleidchen anzuziehen, ihm einen Namen zu geben. Ich unterstütze trauernde Eltern, den Besuch von Familie und nahestehenden Menschen zuzulassen. Also all das, was sie auch tun würden, wenn ein Kind lebend zur die Welt kommt.» Anna Margareta Neff unterbricht ihre Schilderung, schaut sich um auf dem Friedhof Schosshalde in Bern. «Ja, und wenn die Begrüssungszeit gelebt wurde, kann dann auch eine Abschiedszeremonie sehr hilfreich sein.»

Wichtig ist für die Hebamme und Trauerbegleiterin, dass Eltern allfällige Geschwister in den Begrüssungs- und Abschiedsprozess integrieren. «Erzählen Sie Kindern mit einfachen Worten, was passiert ist oder was geschehen wird. Kinder sind oft unsere besten Lehrmeister. Sie haben meist eine noch natürliche und leichte Art, mit dem Tod und mit Verstorbenen umzugehen.»

Geschwister wollen dabei sein, nicht geschont werden

Anna Margareta Neff rät, Rituale durchzuführen. «Etwa eine Zeichnung machen für den verstorbenen Bruder, ein Spielzeug aussuchen für die verstorbene Schwester. Auch sollen die Geschwister vom toten Kindlein mit dem Namen reden, den Bruder, die Schwester sehen und berühren und kennen lernen dürfen. Sie sollen bei der Abschiedsfeier dabei sein und selber etwas machen dürfen, etwa ein Liedli singen, Blüemli oder Steinli bringen und so weiter. Es gibt unbegrenzte Möglichkeiten.»

All diese Empfehlungen entspringen derselben Grundhaltung: dem Kind einen sicheren Rahmen bieten und es begleiten, damit es sein Geschwister kennen lernen und sich von ihm verabschieden kann. Anna Margareta Neff: «So kann es von sich aus das machen, was ihm und seinem Alter entspricht. Wichtig dabei: keine Vorstellung haben, wie sich das Kind verhalten soll, ihm alle Möglichkeiten und Freiheiten offen lassen.» Oft wird aus der Motivation, das Kind zu schonen, vieles verhindert.

Nach einem Kindsverlust wieder schwanger werden

Zum Schluss blieben noch einige Fragen. Anna Margareta Neff beantwortet sie in einem kurzen Interview:

Was geschieht, wenn eine trauernde Mutter nach drei Monaten wieder schwanger ist. Wie nehmen Sie ihr die Angst?
Die Angst kann ihr niemand nehmen. Wir können sie unterstützen, das Vertrauen zu stärken und mit der Angst einen Umgang zu finden. Eine entsprechende Begleitung kann da sehr hilfreich sein. Eine Frau, die ihr Kind verloren hat und wieder schwanger ist, hat beispielsweise Recht auf eine kontinuierliche Begleitung durch eine Hebamme.

Wissen das diese Frauen?
Leider wissen das viele Gynäkologen, Gynäkologinnen und Fachpersonen nicht. Deshalb gelangt diese Information nicht zu den schwangeren Frauen. Entscheidend: Diese Begleitung bei einer Risikoschwangerschaft wird durch die Krankenkassen bezahlt.

Kindsverlust: Anna Margareta Neff, Hebamme, Lebens- und Trauerbegleiterin mit DeinAdieu-Autor Martin Schuppli.
DeinAdieu-Autor Martin Schuppli unterhielt sich mit Anna Margareta Neff zum Thema Kindsverlust auf dem Schosshalden Friedhof in Bern. (Foto: Daniela Friedli)

Und wie nehmen Sie der Frau die Angst, dem Ungeborenen könne ein ähnliches Schicksal wiederfahren?
Wie gesagt, Angst kann ich nicht nehmen, sie ist ja sowieso da. Ein Weg ist aber, diese Ängste anzusprechen, zu schauen, was das denn für Ängste sind. Anzusprechen, wie sich diese Ängste manifestieren und dann Möglichkeiten aufzeigen mit ihnen umzugehen. Zudem unterstütze ich die Schwangere, das Vertrauen in ihren Körper wieder zu stärken. Vieles ist ja auch gut gegangen, sie ist wieder schwanger geworden, dieses Kind ist jetzt da und wächst.

Kinder, die vor der 22. Woche totgeboren zur Welt kommen, sind nicht meldepflichtig. Was bedeutet das?
Das bedeutet, dass diese Kinder beim Zivilstandsamt nicht registriert werden. Für viele Eltern ist das sehr schmerzhaft, ist es doch so, als hätte ihr Kind gar nie existiert.

Wird diese Meldepflicht angepasst?
In Deutschland ist es inzwischen möglich, auch nicht meldepflichtige Kinder auf Wunsch registrieren zu lassen. Das kommt einem grossen Bedürfnis von Eltern nach. Aufgrund aktueller politischer Vorstösse in der Schweiz prüft das Bundesamt für Justiz derzeit, ob die heutige Grenze für die Eintragung angepasst oder aufgehoben wird und somit auch nicht meldepflichtige Kinder eingetragen werden könnten.

Welche Kinder sind denn meldepflichtig?
Totgeborene Kinder mit einem Geburtsgewicht von über 500 Gramm oder mit einem Gestationsalter von mindestens 22 vollendeten Schwangerschaftswochen

Was heisst das für die Bestattung?
Auf Grund der aktuellen Rechtslage besteht offiziell kein Bestattungsrecht für diese Kinder. Zum Glück gibt es immer mehr Friedhöfe, auf denen es Gemeinschaftsgräber für früh verstorbene Kinder gibt. (DeinAdieu.ch berichtete über das Kinderfeld auf dem Luzerner Friedental Friedhof.)

Text: Martin Schuppli/Foto: Daniela Friedli

kindsverlust.ch ist seit 2003 das schweizerische Kompetenzzentrum für nachhaltige Unterstützung beim Tod eines Kindes in der Schwangerschaft, während der Geburt und im ersten Lebensmonat.

kindsverlust.ch bietet:
• Kostenlose Beratung per Telefon und per E-Mail für betroffene Familien und für begleitenden Fachpersonen
• Erstberatung, Notfallberatung für Betroffene, Vermittlung von Fachpersonen in ihrer Region
• Kurse und Schulungen für Fachpersonen zum Umgang mit dem frühen Kindsverlust im ganzen deutschsprachigen Raum
• Ab Herbst 2016 bietet kindsverlust.ch den ersten mehrtägigen vertieften Lehrgang zur professionellen Familienbegleitung beim frühen Tod eines Kindes im deutschsprachigen Raum an

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DeinAdieu berichtete schon in verschiedenen Blogbeiträgen über den Tod von Kindern

10. Juni 2016: Abschiedsfeier für totgeborene Kinder
8. Juli 2016: Kindstod: Fabien lebte nur 62 Tage
15. Juli 2016: «Kindsverlust ist eine Chance»

Eine Antwort auf „Kindsverlust: «Behandelt das verstorbene Kind mit Würde»“

Andrea Vogel sagt:

Anna Margareta ist ein wunderbarer Mensch und sie war eine grosse Stütze für uns!

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