Karin Gottier: «Vor dem Tod fürcht’ ich mich nicht»

Wenn, dann fürchtet sich Karin Gottier vor langem Leiden. Wobei, sagt sie, selbst diese Angst unbegründet ist. Mit DeinAdieu sprach die engagierte Frau über Freiwilligenarbeit, über das Stillwerden auf einer Palliativstation und die Vorstellung, vor der Mutter zu sterben zu müssen.

Karin Gottier öffnet die Tür und lächelt. Sie bat mich vorbeizuschauen, weil sie mir eine Geschichte erzählen wolle.

Die medizinische Laborantin engagiert sich seit Jahren als Freiwillige in der Nachbarschaftshilfe und bei «Wabe». Diese Organisation kümmert sich mit freiwilligen Begleiterinnen und Begleitern um Menschen in der letzten Lebensphase. Die Einsätze leisten sie in Institutionen sowie bei den Patienten, Patientinnen zu Hause.

«Wenn wir Sitzwache halten, tagsüber oder in der Nacht, können Angehörige zum Beispiel wieder einmal ruhig schlafen oder Termine ausser Haus wahrnehmen», sagt Karin Gottier. «Unsere Aufgaben sind vielfältig. Wir helfen beim Essen, gehen Spazieren, beruhigen, führen Gespräche oder sind einfach nur da.»

Vorbereitet auf ihre Arbeit für Menschen in der letzten Lebensphase hat sich Karin Gottier vor sieben Jahren im Limmattalspital, Schlieren. «Wir führten Gespräche über das Sterben und über den Tod. Palliativmediziner Roland Kunz erzählte uns, was physiologisch im Körper passiert, wenn der Mensch still wird. Wenn der Tod eintritt. Ich ging mit Freude und mit Interesse an diese Kurse.» Sie betont, das Thema Tod mache ihr nichts. «Im Gegensatz zu meiner Mutter. Die hat extrem Angst vor dem Tod, dem Sterben.»

Karin Gottier
Karin Gottier schildert in einem Text, wie sie eine Nachbarin begleitete und ihr helfen konnte, still und ohne Angst zu sterben. (Foto: Paolo Foschini)

Freiwilligenarbeit: Beeindruckendes Erlebnis im Spital

Karin Gottier steht auf und drückt mir ein Blatt Papier in die Hand, sagt: «Das wollte ich Ihnen geben. Die Geschichte, die ich erzählen möchte, trug sich 1996 zu, lange bevor ich einen Palliative-Care-Kurs besucht habe.»

Eine Nachbarin, nennen wir sie Helen, war seit längerem schwer krank. Ich besuchte sie regelmässig. Entweder zu Hause oder im nahen Spital. Die letzten drei Wochen ihres Lebens verbrachte sie im Spital, wo sie liebevoll gepflegt wurde. Fast jeden Abend verbrachte ich ein bis zwei Stunden an ihrem Bett. Sie schätzte diese Besuche sehr. In ihren letzten Lebenstagen schien sie niemanden mehr wahrzunehmen. Das nahe Ende machte sich bemerkbar.

Als ich an jenem Tag, es sollte ihr letzter sein, zu Helen ins Zimmer kam, fiel mir ihre veränderte Atmung auf. Sie schien mir hauchartig zu sein. Ob sie mir auf diese Weise etwas mitteilen wollte? Reaktionen zeigte Helen keine mehr. Leise sagte ich zu ihr, sie dürfe jetzt gehen. Das habe ihre Schwester ebenfalls gesagt. Und die stand ihr sehr nahe.

Etwa nach einer Stunde blickte Helen zu mir, allerdings ohne mich richtig anzuschauen. Ob sie mir mitteilen wollte, es sei jetzt so weit? Ich schob meine Hand unter ihre Hand. Die Atemzüge der Stillwerdenden wurden langsamer und seltener. Ganz friedlich konnte sie diese Welt verlassen. Ich blieb sitzen. Wartete geduldig und gelassen.

Schliesslich kam die Pflegefachfrau dazu. Sie kannte mich bestens. So konnte ich im Zimmer bleiben, während sie die verstorbene Helen von der Infusion befreite und dann etwas zurechtmachte. Dabei sprach sie leise zur Verstorbenen. Sie erklärte ihr, was sie gerade mache. Zum Schluss zupfte sie einige weisse Blüten aus dem Blumenstrauss auf dem Nachttisch und legte sie Helen auf die Brust.

Dieser liebevolle, respektvolle Umgang mit einer Stillgewordenen beeindruckte mich sehr. Trotz aller Schwere bleibt mir dies als schönes und bereicherndes Erlebnis in Erinnerung.

Dieser Fall zeigte Karin Gottier klar, dass der Tod zwei Seiten haben kann. «Der Krebs hatte schon Metastasen im Hirn der Kranken gebildet. Viele Funktionen waren zerstört. Die Frau konnte nicht mehr reden. Wir waren froh, als sie gehen konnte. Und traurig, weil sie nicht mehr da war.»

Karin Gottier
DeinAdieu-Autor Martin Schuppli erklärt Karin Gottier, wie «ihr Blog» erscheinen wird. (Foto: Paolo Foschini)

Sterbende «gehen» oft nachts

Wir schauen uns an. Ich möchte wissen, wie sie denn ihren ersten Einsatz in der Villa Sonnenberg erlebte. Die Villa ist eine von Roland Kunz aufgebaute Palliativstation. Sie gehört zum Spital Affoltern. «Ich war nervös. Wachte am Bett eines mir unbekannten Mannes. Als ich ihn verliess, lebte er noch. Später hörte ich, er sei in der Nacht gestorben.» Karin Gottier sagt, Sterbende würden oft nachts gehen, wenn niemand da sei. Ich nicke. Mein Vater starb ebenfalls, als er alleine war, kurz nachdem meine Mutter das Spitalzimmer verlassen hatte.

Wir reden über die Selbstbestimmung am Lebensende. Karin Gottier findet, jeder habe das Recht auf einen sauberen, schmerzfreien Tod. «Wobei», sagt sie, «in Palliativstationen braucht es ‹Exit› nicht. Aber ich habe Verständnis für Menschen, die diesen Weg wählen.»

Die alleinstehende Frau hat keine Angst. «Weder vor dem Tod, noch vor dem Sterben. Vor dem Leiden habe ich Angst. Vor dem Sterben habe ich, das glaube ich wenigstens, keinen Schiss.» Sie denkt nach. «Ich weiss ja nicht, wie es ist.»
Und was denkt Karin Gottier, wohin führt die letzte Reise? «Das lasse ich offen. Es kommt niemand zurück. Ich sagte oft, ich hätte keine Angst. Ich bin überzeugt, unsere Seelen sind unsterblich. Ob es nun einen Gott gibt oder ein Paradies, ich bin sicher, es gibt eine jenseitige Welt.»

Karin Gottier

Karin Gottier: «Ich bin überzeugt, unsere Seelen sind unsterblich. Ob es nun einen Gott gibt oder ein Paradies, ich bin sicher, es gibt eine jenseitige Welt.» (Foto: Paolo Foschini)

«Die Seele braucht bestimmt kein offenes Fenster»

Wenn jemand stirbt, was würden Sie tun? «Warum ein Fenster öffnen? Die Seele braucht bestimmt kein offenes Fenster.» Überhaupt hält Karin Gottier wenig von Ritualen. «Ich bin kein Ritualmensch.» Auf die Frage, ob wir wiederkommen würden, sagt die engagierte Frau: «Ich denke ja, aber ich möchte nicht.»

Zur letzten Frage. Was machts mit Ihnen, wenn Sie wüssten, Sie würden heute Nacht still und leise, ohne Angst und ohne Schmerzen sterben. «Ich fände es etwas früh, denn ich möchte nicht vor meiner Mutter sterben. Ein Kind soll nicht vor der Mutter gehen. Klar möchte ich wissen, wann und wo. Aber die nächste Nacht – das wäre mir eindeutig zu früh.»

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Karin Gottier genoss es, den wuschligen Hund zu streicheln – und der schien sich sehr wohlzufühlen. (Foto: Paolo Foschini)

Hunde und Katzen fühlen sich wohl bei Karin Gottier

Wir schweigen. Karin Gottier streichelt Bilbo. Der Hund fühlte sich sofort extrem wohl bei ihr. «Ich verstehe mich gut mit Tieren und bin dabei, die Kommunikation mit ihnen zu üben.» Eine Erklärung, warum sich mein «ständiger» Begleiter sofort zur Interviewpartnerin hingezogen fühlte. Als ich dann aber sage: ‹Bilbo, der Chef geht›, springt er sofort von ihrem Schoss und waggelt mir hinterher.

Text: Martin Schuppli, Fotos Paolo Foschini

Freiwilligenarbeit:
Benevol-Seite mit Jobangeboten
Wachen & Begleiten (WABE) im Knonaueramt

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