«Hat die Seele genug gelernt, darf sie heimkehren»

Freud und Leid, Leben und Sterben, Geburt und Tod, Trauung und Bestattung, Tränen und Trost, Hinschied und Auferstehung. Diese Worte bestimmen das berufliche Leben von Wolfgang Weigand.

Wolfgang Weigand begleitet Menschen in besonderen Lebenssituationen als Ritualgestalter anlässlich einer Taufe, einer Hochzeit oder eines Todesfalls. Aber auch, wenn sich ein Paar scheiden lässt und ein Trennungsritual wünscht.

An dieser Stelle berichtet der Autor über den Trauerbegleiter und Abschiedsgestalter Wolfgang Weigand. Im Gespräch erzählt der 50-Jährige, wie wichtig Rituale sind und erklärt, welche Traditionen und Gebräuche sich rund um Tod und Trauer, Abschied und Bestattung ranken.

Schweren Autounfall überlebt

Wolfgang Weigand weiss, was sterben heisst. Vor 20 Jahren, am 25. Januar 1997, überlebte er einen schweren Autounfall nur knapp. «Seither ist mir bewusst, wie fragil das Leben sein kann und wie schnell so eine Zäsur alle bisherigen Koordinaten im Leben verschiebt.» Alles durcheinanderbringen kann ebenso der Tod in unmittelbarer Nähe. «Unser Sohn Simon kam 1999 tot zur Welt. Eine Grenzerfahrung. Der Bub ist mir heute noch ganz nah. Und der Abschied von totgeborenen Kindern, so genannten Sternenkindern, liegt mir noch immer sehr am Herzen.»

Wer Schicksalsschläge mit Tod und Sterben am eigenen Leib erlebte, wer Tod, Leid und Abschied in nächster Nähe verkraften musste oder durfte, hat grosses Verständnis für die Nöte, Verzweiflung und Leiden von Betroffenen.

Schockstarre als Ausdruck von Trauer

«Trauer ist individuell», sagt Wolfgang Weigand. «Und eigentlich eine gesunde Reaktion auf Verlusterfahrung.» Die einen empfinden Wut oder Schuldgefühle. Andere fragen sich verzweifelt ‹Warum?›. Es gibt Menschen, die verharren in einer Art Schockstarre. Sie sind verzweifelt, verärgert oder werden von depressiven Verstimmungen geplagt. Logisch taucht oft die Frage auf, wie lebe ich ohne meinen Partner, meine Partnerin? Kein Wunder, wenn in solchen Momenten der Bezug zur so plötzlich veränderten, zur neuen Welt fehlt.»

Dieser Prozess, diese Rückkehr ins Leben kann sich schwierig gestalten. Es gilt, neue Beziehungen zu knüpfen, neue Alltagsrituale zu finden, vielleicht auch mit ambivalenten Gefühlen fertig zu werden und den Verlust zu verkraften.

Hilfslosigkeit im Umgang mit Trauernden

Unter solchen Umständen kann sich der Umgang mit Betroffenen schwierig gestalten. «Trauernde können schroff reagieren, wenn jemand Anteilnahme zeigt», sagt Wolfgang Weigand. «Oft haben sie den Halt verloren, an Souveränität eingebüsst. Sie entwickeln einen Tunnelblick. Können nicht links und rechts schauen.» «Was tun?», fragt der Autor. Wie damit umgehen? Wolfgang Weigand findet, «Man darf seine Hilflosigkeit zeigen. Ich rate, lieber nichts zu sagen, als irgendwelche Floskeln von sich zu geben. Wichtig ist die innere Haltung. Wenn jemand trauert, soll man ihm, soll man ihr vermitteln: ‹Ich bin bei dir. Kann ich dir helfen?›» Aber was heisst helfen? «Machen Sie konkrete Angebote. Kochen Sie für jemanden. Seien Sie einfach da. Nehmen Sie Trauernden einen Gang ab, gehen Sie einkaufen, mit dem Hund spazieren oder was auch immer. Seien Sie da.»

Wie ein Trauernder, eine Trauernde reagiert, hängt davon ab, ob der Tod unerwartet war oder erwartet. «In der Zeit vor der Bestattung können Kondolenzbesuche, können Beileidsbekundungen Stress auslösen. »

Kondolieren kann Stress auslösen

Oft schützen sich Angehörige von Verstorbenen mit dem Satz «Bei der Abdankung bitten wir, vom Kondolieren abzusehen». Dafür hat Wolfgang Weigand grosses Verständnis. «Gerade bei einer Feier mit vielen Leuten und vielen Angehörigen kann dieses Händeschütteln Stress auslösen. Und zwar hüben wie drüben. Bei den Besuchern der Feier, die warten müssen, bis sie an der Reihe sind und bei den Angehörigen, wo das Händeschütteln kein Ende nimmt.»

Für viele Menschen sind Rituale wichtig. Etwa Abschiedsrituale. Und da schätzen gerade Menschen die kirchenfern leben, die Dienste von freien Theologen, von Ritual- oder Zeremonienleitern. «Es zeigt sich immer mehr, dass Kirchen keine Monopolstellung einnehmen können, wenns ums Sterben geht», sagt Wolfgang Weigand. «Trotzdem finden sich auf den Webseiten vieler Gemeinden keine Hinweise auf uns freie Theologen, auf Trauerrednerinnen oder Zeremonienleiter. Dabei ist für den Tod nicht nur ein Pfarrer, eine Pfarrerin zuständig.» Weigand denkt dabei an die mittlerweile über 25 Prozent Konfessionslosen in der Schweiz.

Rituale helfen beim Abschiednehmen

Im Gespräch über Rituale blüht Wolfgang Weigand auf. Hier schöpft er aus seiner langjährigen Erfahrung, aus seinem grossen Wissen und seiner Empathie für die Menschen. «Sind Kinder da, versuche ich sie miteinzubeziehen. So haben wir schon eine Urne mit ‹Flügeln› versehen, Zeichnungen aufgestellt, Collagen gezeigt. Kinder spielen Instrumente, singen Lieder, tragen Gedichte vor. Wenn die Trauergäste Blumen ins Grab werfen, weist das auf die Vergänglichkeit hin. Bringen sie Steine mit, zeigt das symbolisch die Unvergänglichkeit der Erinnerungen.»

Wolfgang Weigand backte einmal mit der Witwe eines Bäckers einen Zopf. «Davon verteilten wir einzelne Scheiben unter den Trauergästen und assen schweigend. Eine andere Trauergesellschaft wünscht sich, dass Prosecco ausgeschenkt wird. Und so landete der eine oder andere Schluck im Grab.»

Der Schmaus gehört zur «schönen Leich»

Oft bringen die Trauernden Zettel oder Briefchen mit, die sie ins Grab legen. Manchmal lesen sie vorher daraus vor. «Ich motiviere die Angehörigen, etwas zur Trauerfeier beizutragen, gebe Anregungen, um eine trostlose Kapelle zu schmücken, oder vom Verstorbenen etwas mitnehmen: einen Motorradhelm beispielsweise, ein Buch, ein Bild, Fotos und so weiter. Nachhaltig sind Rituale, bei denen die Trauergäste nach der Abschiedsfeier etwas mit nach Hause nehmen können.»

Ein schöner Brauch, finden sowohl der freie Theologe wie der Autor, sei das Zusammensein nach einer Abdankung. «Gerade auf dem Land ist und war der Tod ein soziales Ereignis. Da gehörte das Traueressen noch immer zur Tradition. Es wurden Suppe, Käse, Brot und Wein aufgetischt. Das Leichenmahl war Ausdruck der Gemeinschaft und des Zusammenhalts von Verwandten, Bekannten sowie der Dorfbevölkerung. Als «schöne Leich» bezeichnet wird in Österreich und Bayern eine stilvolle, würdige Bestattung mit vielen Trauergästen und anschliessendem Leichenschmaus mit Umtrunk. Oder, wie Wolfgang Weigand, der auch Kabarettist ist, anfügt: «Eine schöne Beerdigung vergisst ein Toter seine Lebtage nicht mehr …»

Der Schmetterling symbolisiert die Seele

Jetzt wirds privat. Der Autor will von Wolfgang Weigand wissen, was nach dem Tod komme? Ob dann alles vorbei sei? Der freie Theologe denkt nach. Beginnt seine Antwort mit einer Gegenfrage: «Ist der Tod nicht einfach eine Transformation, ein Übergang in einen anderen Zustand? Wie bei der Raupe, die sich in einen Kokon verpuppt und später zum Schmetterling wird?»

Wenn Kinder etwas zum Thema Tod malten, sagt der Trauerbegleiter, «dann malen sie einen Regenbogen. Er verbindet zwei Welten. Oder sie malen einen Schmetterling. Der steht für Transformation.» Und das machen sie unabhängig davon, wie sie religiös, sozial oder kulturell aufgewachsen sind.

Das beschrieb einst die berühmte Schweizer Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross: Sie besuchte 1945 im polnischen Mejdanek KZ-Baracken und entdeckte in den Holzwänden von Kinderhänden eingeritzte Schmetterlinge. Danach war für sie der Schmetterling das Sinnbild der menschlichen Seele.

Kinder ritzten Schmetterlinge in KZ-Baracken

Es wird still im stimmungsvollen Besprechungsraum von Wolfgang Weigand. Die Vorstellung, dass Kinder vor ihrem grässlichen Tod in der Gaskammer mit Fingernägeln Schmetterlinge in die Barackenwände ritzten, ist sehr berührend und kaum fassbar.

Aber, Wolfgang Weigand, was passiert beim Sterben? Der ausgebildete Theologe legt die Finger aneinander, blickt irgendwohin, schweigt eine Weile und sagt dann: «Ich stelle es mir vor, wie es Elisabeth Kübler-Ross einmal gesagt hat: Wenn die Seele genug gelernt hat, darf sie nach Hause gehen.»

Wieder schweigt er, sagt dann: «Ich darf loslassen, habe alles gelernt, darf gehen, bin im Reinen, lasse Wesentliches, aber auch Geliebtes zurück. Ich bin zudem überzeugt, dass das Bewusstsein nicht zu Ende ist mit dem biologischen Tod. Das zeigen klinisch untersuchte Nahtoderlebnisse auch nach dem Erlöschen messbarer Hirnaktivitäten. Das Bewusstsein geht weiter. Ich meine, Sterbende spüren, in eine neue Situation zu kommen, sehen Licht, freuen sich auf das Wiedersehen mit Freunden, mit Menschen, die vorangestorben sind. Wer stirbt, taucht ein in ein anderes Energiefeld, das nicht mehr begrenzt ist.»

Die Essenz des Menschen? Ein Häufchen Asche

Zur Reinkarnation hat Wolfgang Weigand keinen direkten Zugang. Eher kann er sich die «Ewigkeit» einer Seele vorstellen, dass sie also vor dem Auf-die-Welt-Kommen schon existierte und auch nach dem Tod, wenn sie sich vom Körper löst, weiterexistiert. Es sei erschreckend, wie wenig von uns Menschen zurückbleibt. «Ein Häufchen Asche bleibt, die sterblichen Überreste». Aber die unsterblichen Überreste sind ja auch da, die Essenz des Menschen,

«all die Erinnerungen an einen Menschen, an die Geschichten und Begegnungen mit ihm, an das, was ihm wesentlich war, an seinen Charme, an das, worüber gemeinsam gelacht, vielleicht auch geweint wurde.»

Text: Martin Schuppli, Foto: zVg

Wolfgang Weigand. Freier Theologen, Philosophen und Schriftsteller, Winterthur.
Wolfgang Weigand. Freier Theologen, Philosophen und Schriftsteller, Winterthur. (Foto: zVg).

Wolfgang Weigand | Theologe SVFT
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