Esther Hürlimann: «Kollektives Trauern gehört zu unseren Bedürfnissen»

Der Tod von «unbekannten» Menschen kann uns umtreiben. Egal, ob wir in der Zeitung davon lesen, im TV darüber berichtet wird oder wir, dank sozialer Medien, scheinbar direkt davon betroffen sind. Esther Hürlimann, Autorin und Lektorin, macht sich Gedanken.

Diese Woche ist einer meiner Facebook-Freunde gestorben. Ich kannte ihn nicht persönlich, doch freundeten wir uns an, nachdem wir beide auf der Wall eines gemeinsamen Freundes kommentiert hatten. Von da an gab es mal ein Like von ihm oder einen Kommentar von mir. Ich erfuhr etwas über seine Familie, nahm an seinen hier geteilten Gedanken Anteil, die mir oft aus dem Herzen sprachen. Er war wie ein Nachbar geworden, dem man alle paar Tage kurz begegnet und sich das Neuste erzählt. Nun schrieb gestern seine Frau auf der Wall ihres Mannes, dass er überraschend gestorben sei. Ich war sofort schockiert. Realisierte in diesem Moment, dass ich keine adäquaten Gefühle parat hatte. Zwar habe ich seiner Witwe mein Beileid ausgedrückt, aber die Trauer fühlte sich trotzdem seltsam an, weil dieses Kennen hier ja nicht dasselbe ist wie im realen Leben. Seither beschäftigt mich folgendes: Werden wir uns mit einer neuen Form des Trauerns über virtuelle Beziehungen befassen müssen?

Als ich vor ein paar Wochen auf Facebook diesen Post absetzte, erhielt ich darauf viele Reaktionen. Sie zeigten mir, dass es offenbar vielen ähnlich wie mir ergeht: Im Umgang mit dem Tod schlittern wir in den sozialen Netzwerken wie Twitter, Facebook und Instagram auf ungewohntem Terrain herum. Hier, wo wir uns gerne mit den Sonnenseiten des Lebens inszenieren, unsere Meinung pointiert teilen und, just for Fun, Katzenvideos posten, fühlen wir uns verunsichert, wenn wir lesen, dass einer unserer «Freunde» gestorben ist – erst recht, wenn wir mit ihnen nie persönlichen Kontakt hatten, sondern die Beziehung rein virtuell war. Sind hier Trauergefühle passend? Ist es adäquat, Tränen zu vergiessen oder sogar für einen Moment die Arbeit niederzulegen, um sich von diesen Emotionen bewegen zu lassen? Und: Darf ich mich als rein virtuelle Facebook-Freundin jener Trauergemeinde von Arbeitskollegen, Verwandten und «echten» Freunden anschliessen? Könnte das von den Angehörigen nicht als übergriffig, ja befremdlich empfunden werden? Kurzum: Wie soll ich virtuell trauern und mein Beileid bekunden?

Kollektives Trauern. Esther Hürlimann
Esther Hürlimann im Kreuzgang der Fraumünsterkirche in Zürich: «Die Säkularisierung hat den Tod zu einem reinen Verwaltungsakt werden lassen, den öffentliche Ämter an die Hand nehmen. Die Bestattung ist ein karges, administratives Vorgehen geworden, das kaum noch an ein religiöses Ritual erinnert. Getrauert wird leise und verstohlen hinter dunklen Sonnenbrillen und nicht mehr im lauten und erschütternden Klagen.» (Foto: Paolo Foschini)

Kollektives Trauern: Gefühle sind Gefühle. Egal ob real oder virtuell ausgelöst

Aufgrund der Reaktionen auf meinen Post beobachte ich zwei verschiedene Haltungen, die in etwa meinen eigenen Zwiespalt widerspiegeln: Die einen sehen keinen Unterschied zwischen Trauer über den Verlust einer realen Beziehung und einer virtuellen. Gefühle sind Gefühle, ob sie real oder virtuell ausgelöst wurden, spielt keine Rolle. Obwohl ich mich im realen Leben nie mit dieser Person getroffen habe, so war sie Teil meines täglichen Lebens: intellektuell und emotional. Ich habe mit ihr ganz reale Gefühle, Erlebnisse und Interessen geteilt – wenn auch «nur» auf Social Media. Doch die Emotionen sind genauso echt und fühlen sich genau gleich an wie jene gegenüber einem «richtigen» Freund.

Die andere Haltung geht eher in die Richtung, dass «virtuell» in die Kategorie «fiktiv» gehört. Wenn ich also über einen verstorbenen Facebook-Freund weine, entspricht das in etwa der Trauer gegenüber einem Prominenten aus der Öffentlichkeit oder einem verstorbenen Helden im Film oder Buch. Es berührt mich, ist aber eher eine freiwillige Gefühlsduselei, der ich mich je nach Wahl zuwenden kann oder nicht. Optionales Gefühlskino ohne jegliche soziale Verantwortung und Verpflichtung gegenüber den Hinterbliebenen. Und sogar noch mehr: Wer sich hier zu viel Trauer für sich selber abschneidet, reagiert gegenüber den Angehörigen und «echt» Trauernden als übergriffig, bedient sich Emotionen, die ihm eigentlich gar nicht zustehen.

Diese beiden Haltungen diskutierte die Öffentlichkeit erstmals heftigst anlässlich des islamistischen Terroranschlages auf die Redaktion der französischen Satire-Zeitschrift «Charlie Hebdo», wo aus Solidarität mit den Verstorbenen der Banner «Je suis Charlie» auf allen Profilen prangte. Während dies für die einen eine symbolische Identifikation und Solidaritätsbekundung war, sahen Kritiker in diesen «Je suis»-Hype einen unangebrachten Betroffenheitskult.

Für mich erscheint ein angemessener Umgang irgendwo dazwischen. Kollektives Trauern war schon immer ein Bedürfnis der Menschen. Abschiedsrituale sind immer auch Gemeinschaftsrituale, an denen sich Menschen aus dem nahen und fernen Umfeld gleichsam beteiligten. Sich mit Trauernden zu solidarisieren, ist eine soziale Geste der Anteilnahme, von der beide etwas haben. Im Mitleiden spüren wir uns selber auf immer wieder neue Art und Weise. Im Zusammenhang mit dem Tod ist Beileid ebenso eine Beschäftigung mit der eigenen Vergänglichkeit und dem Sterben. Innerhalb von Religionsgemeinschaften sind dafür über Jahrhunderte hoch komplexe Rituale und Gesten gewachsen.

Leider sind diese jedoch längst verblasst. Die Säkularisierung hat den Tod zu einem reinen Verwaltungsakt werden lassen, den öffentliche Ämter an die Hand nehmen. Die Bestattung ist ein karges, administratives Vorgehen geworden, das kaum noch an ein religiöses Ritual erinnert. Getrauert wird leise und verstohlen hinter dunklen Sonnenbrillen und nicht mehr im lauten und erschütternden Klagen. Nur noch wenige lassen sich kirchlich bestatten. Friedhöfe sind lauschige Parks, Gemeinschaftsgräber landschaftsarchitektonische Trouvaillen, die aber kaum Raum für Emotionen lassen.

Kollektives Trauern: Esther Hürlimann
Esther Hürlimann auf dem Münsterplatz in Zürich. Für einmal bedeckt ein pinkiger Teppich den von Parkplätzen befreiten urbanen Lebensraum. (Foto: Paolo Foschini)

 

Soziale Medien machen kollektives Trauern möglich

Daher frage ich mich, ob die sozialen Medien ein Vakuum auffüllen, das durch die Verdrängung des Todes und Trauerns aus dem öffentlichen Raum entstanden ist. Die Möglichkeit, mit einem Banner solidarisch zu trauern oder am Tod von Menschen Anteil zu nehmen, die man nicht persönlich kennt, entspricht offensichtlich einem starken Bedürfnis. «Dank der digitalen Medien kann ich ganz weit weg sein und bin trotzdem so nah und präsent verbunden», schrieb ein Kollege kürzlich auf seiner Wall. Dies trifft insbesondere auf das Trauern zu.

Text: Esther Hürlimann, Fotos: Paolo Foschini

Kollektives Trauern. Esther Hürlimann und Martin Schuppli
In einem gotischen Kreuzgang gibts Dinge, die fröhlich stimmen. Esther Hürlimann und Martin Schuppli betrachten die frivole Szene beim Brunnen. (Foto: Paolo Foschini)

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