«Auch versehrte Menschen haben einen grossen Wert»

Noch immer lasse man in Afrika Menschen mit einer Einschränkung «in einem Zimmer dahinsiechen, bis sie sterben», sagt eine Pflegefachfrau aus Bern. Das wollte sie ändern. Seit über vierzig Jahren lebt sie in Angola und arbeitet für die Non-Profit-Organisation SAM global.

Es war im Oktober 1994, als das Rote Kreuz die Mitarbeiterinnen des ländlichen Spitals mit einem Frachtflugzeug in eine sichere Stadt in Angola flog.

Nach Kampfhandlungen am Fluchtort war auch dort die Lage gefährlich geworden. Elisabeth, die ihren Nachnamen aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte, erinnert sich noch immer an die Details. An das Auto, in welches sich die Leute eingepfercht hatten. Sie erinnert sich an die Nacht nach der Flucht, in der sie kein Auge zugetan hat. An jene junge Frau, die nach einer Schussverletzung in den Rücken Paraplegikerin war. «Ich nahm sie mit. Der Rollstuhl musste zurückbleiben», sagt sie. Nur für ein paar Monate blieb die gebürtige Bernerin in der Schweiz, ehe sie nach Angola zurückkehrte.

Seit 1980 lebt Elisabeth in Angola, im Staat im Südwesten Afrikas, seit 1995 in Lubango, einer Stadt mit einer Million Einwohner. «Schon als Kind hatte ich den Wunsch, als Pfegefachfrau nach Afrika zu gehen», sagt sie. Nach ihrer Ausbildung erfuhr sie über die damalige Schweizer Alliance Mission, heute SAM global, von Angola und ging, 27-jährig, dorthin. Erst arbeitete sie in einem Spital. Seit rund 20 Jahren hat sie sich für SAM global auf die Rehabilitation von körperlich eingeschränkten Menschen spezialisiert, beziehungsweise die Rehabilitationsarbeit überhaupt etabliert. Die christliche Non-Profit-Organisation mit Schwerpunkt personelle Entwicklungszusammenarbeit finanziert ihre Einrichtungen, aber auch etwa Krücken und Rollstühle durch Spenden.

Immer wieder Unfälle mit Minen

«Noch immer gibt es Unfälle mit Minen und daher viele Menschen mit amputierten Gliedmassen», sagt Elisabeth. Davon betroffen seien häufig Kinder, die auf dem Land das Vieh hüten und dabei immer wieder Sprengkörper finden. In Angola herrschten seit 1961 Kämpfe für die Unabhängigkeit, die 1975 gewonnen wurden. Seither beherrscht die Partei MPLA das Land autoritär; Korruption und Menschenrechtsverletzungen sind bis heute weit verbreitet. Bis 2002 herrschte Bürgerkrieg, das Land war stark vermint worden.

Erst seit Kurzem würden überhaupt Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen ausgebildet. Mittlerweile werden die Patientinnen und Patienten auf Elisabeths Abteilung auch ambulant betreut. Rund 100 Personen sind ständig in Behandlung. «Leute aus dem ganzen Land suchen uns auf. Unser Ziel ist es, sie auch wieder auf der Arbeit zu integrieren», sagt Elisabeth. Dabei arbeite man eng mit einem 200 Kilometer weit entfernten Prothesenzentrum zusammen, welches Prothesen aus Holz anfertige. Auch erteilt die Pflegefachfrau angehendem Gesundheitspersonal Unterricht und trägt die Verantwortung über die Abteilung eines Spitals, das die Patientinnen und Patienten später zur Rehabilitation schickt.

Dass Elisabeth, die auf dem Beatenberg aufgewachsen ist, auch nach ihrer Flucht in die Schweiz wieder nach Angola zurückkehrte, liegt an der Arbeit. «Bis heute ist es für mich so befriedigend, zu sehen, dass jemand, der einmal gelähmt war, wieder gehen kann», sagt sie. Manchmal brauche das einfach sehr viel Geduld, nicht nur von der betroffenen Person, sondern auch von deren Familien und dem Personal. Die junge Frau, die Elisabeth als Paraplegikerin damals aus dem Kriegsgebiet gerettet hat, habe mit Krücken wieder zu gehen gelernt, sei operiert worden. «Heute lebt sie in der Hauptstadt Luanda, hat studiert, die Uni abgeschlossen und Arbeit gefunden. Solche Geschichten stellen mich sehr auf.» Denn noch immer lasse man in Afrika Menschen mit einer Einschränkung «in einem Zimmer dahinsiechen, bis sie sterben». Durch ihre Arbeit könne sie der Gesellschaft zeigen, dass auch versehrte Menschen grossen Wert hätten und ihr Leben meistern könnten.

Lucia hatte einen schweren Motorradunfall. Beide Beine mussten amputiert werden. Mittlerweile geht es ihr wieder gut. Sie hat zwei Kinder und ist voll ins Arbeitsleben integriert.

«Ich gehöre zu einer afrikanischen Familie»

Mit ein Grund, dass sich Elisabeth, die sich ein Häuschen gebaut hat am Stadtrand, dort zu Hause fühlt, ist die grosse Zusammengehörigkeit unter den Menschen. «Ich gehöre zu einer afrikanischen Familie, werde an Anlässe eingeladen. Ich bin verwurzelt hier. Möchte nirgendwo anders sein.» Hier werde alles in der Gruppe gelöst oder in der Familie. Sei es, dass ein Todesfall verarbeitet werden müsse, es Probleme gebe oder man Hochzeitsvorbereitungen treffen müsse. Das bringe aber auch viel mehr Verpflichtungen mit sich.

Noch habe sie keine Pläne, in die Schweiz zurückzukehren, auch wenn die Armut im Land gross ist, es immer wieder Stromausfälle gibt, sie einen Tank statt einen Wasseranschluss hat und wegen der hohen Kriminalität hinter Gittern, einer Mauer und Stacheldraht wohnen muss und ab und an Cervelat, Schweizer Schokolade und Käse vermisse. Sie lacht. «Ich bin glücklich hier. Immer, wenn ich mit Warmwasser dusche, denke ich: Was für ein Geschenk.»

Elisabeth, heute 69-jährig, wäre eigentlich pensioniert. Aber sie wolle die Arbeit von SAM global weiterhin unterstützen, auf freiwilliger Basis, solange sie gesund sei. Zugleich agiere sie als Verbindungsperson zwischen der Organisation und weiteren Partnerorganisationen, «damit Informationsfluss läuft», wie sie sagt.

Elisabeth mit zwei angolanischen Mädchen.


SAM global (bis 2017 Schweizer Allianz Mission) ist eine schweizerische christliche Non-Profit-Organisation mit Sitz in Winterthur. Die Abkürzung steht seit 2017 für serve and multiply (deutsch: dienen und multiplizieren). SAM global will mit Bildung Leben verändern und ist im Bereich der personellen Entwicklungszusammenarbeit tätig. Hier liegt der Fokus auf Ausbildung in verschiedenen Bereichen und Hilfe zur Selbsthilfe.

SAM global beschäftigt etwa 80 europäische Mitarbeitende in den Einsatzländern, etliche Freiwillige und zahlreiche einheimische Mitarbeitende und ist gemäss eigener Homepage mit verschiedenen Partnern in elf Ländern in Afrika, Asien und Südamerika tätig, so etwa auch in Kambodscha, Sri Lanka, Burkina Faso, Guinea, Kamerun, Tschad und Brasilien. Daneben engagiert sich SAM global in der Schweiz unter Migranten und Migrantinnen. Die Organisation engagiert sich schwerpunktmässig in den Bereichen Grund- und Berufsbildung, Aufbau von Kleingewerbebetrieben (Business for Transformation B4T), medizinische Arbeit und Gesundheitsprävention, theologische Bildung und Praxis, Verbesserung der Lebensgrundlagen und Sensibilisierung.

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