«Man kann sich das nicht vorstellen. Diese absolute Misere, diese Armut»

Dort, wo die Armut grassiert, ist der Konsum von Rauschmitteln eng mit geschlechterspezifischer Gewalt verknüpft. International Blue Cross versucht, Jugendliche in verschiedenen afrikanischen Ländern von der Strasse zu holen, sie über Drogen und Alkohol aufzuklären und ihnen eine Perspektive zu bieten. Die Projektverantwortliche Flavia Ganarin sagt, wie das gelingen kann.

Eine Hütte aus Karton und Wellblech. Ein Zuhause ohne fliessendes Wasser, ohne Elektrizität. Eine Feuerstelle als Kochherd. Der Geruch nach Urin und Alkohol. «Man kann sich das nicht vorstellen, wenn man es noch nie sah. Diese absolute Misere, diese Armut», sagt Flavia Ganarin. Die Projektverantwortliche bei International Blue Cross redet von ihrem letzten Besuch in Brazzaville, der Hauptstadt der Republik Kongo. Ganarin ist für das Schweizer Hilfswerk in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Dort ist sie für die Jahresplanung zuständig. «Ich schaue, dass das Geld richtig ausgegeben wird und überprüfe auch, wie wirksam unsere Projekte sind», sagt sie.   

International Blue Cross setzt sich dafür ein, dass Menschen nicht durch Alkohol oder Drogen geschädigt werden. Als Nichtregierungsorganisation vereinigt sie 38 weitere unabhängige nationale Organisationen in 37 Ländern unter ihrem Dach. 

Gespräche über Gewalt und etwa die Stellung der Frau, Theater und Rollenspiele sollen Veränderungen anstossen. Flavia Ganarin, Projektverantwortliche bei International Blue Cross. Bilder: Manu Friederich

Jugendbanden unter Drogeneinfluss

So führt die Organisation etwa auch in Tschad, Togo und Tansania Drogen- und Alkoholpräventionsprojekte durch, die hauptsächlich auf Jugendliche fokussiert sind. Jugendliche, die in benachteiligten, ärmlichen Quartieren oder in Slums aufwachsen. Dort, wo die Armut grassiert, ist der Konsum von Rauschmitteln eng mit geschlechterspezifischer Gewalt und auch mit Krankheiten verknüpft. «Alkoholsucht ist oft die Ursache, aber auch die Konsequenz dieser Lebensumstände», sagt Ganarin. 

Jugendbanden ständen oft unter Drogeneinfluss, was die Gewalt verstärke. Häufig seien die jungen Erwachsenen jedoch auch selbst Opfer von Gewalt geworden. 

Verfolgt wird eine evidenzbasierte Interventionsstrategie auf drei Ebenen: So geht es etwa um die Ausbildung von individueller Lebenskompetenz, in einem weiteren Schritt um die Schulung der Community – der Gemeinschaft – und schliesslich um die Änderung gewisser Strukturen, etwa auf Gesetzesebene. 

Über öffentliche Schulen und Jugendgruppen von Kirchen erreiche man die Jugendlichen am besten, sagt Ganarin. Ausgebildete, sogenannte Life Skills Animators, würden diese dann regelmässig treffen, um sie von den Strassen wegzubekommen. Gespräche über Gewalt und etwa die Stellung der Frau, Theater und Rollenspiele sollen Veränderungen anstossen. 

Flavia Ganarin ist zuversichtlich, dass die Arbeit von International Blue Cross längerfristig zu mehr Frieden und einer besseren Entwicklung junger Leute beitragen könne.

«Es geht darum, dass die Jugendlichen einen Weg finden, durch unsere Begleitung in kleinen Schritten aus diesem Leben oder etwa aus der Prostitution rauszukommen.» Die Jugendlichen lernten, weniger Geld für Alkohol auszugeben, ihren Lebensstil zu ändern, zu sparen, weniger abhängig zu sein. In Tschad arbeitet die Nonprofit-Organisation mit Motorradtaxifahrern zusammen. Viele Jugendliche arbeiten als solche, sind jedoch von Tramadol, einem Schmerzmittel, abhängig. Das ist nicht nur ungesund, sondern auch eine Gefahr im Strassenverkehr. «Viele von ihnen träumen davon, Schuhmacher zu werden. Wir arbeiten mit andern NGOs zusammen, die dafür Kurse anbieten», sagt Ganarin. Oder man animiere sie fürs sogenannte Micro Financing. Dabei werden kleinere Projekte mit mehreren Leuten zusammen finanziert und umgesetzt. 

International Blue Cross arbeitet auch mit anderen Hilfswerken zusammen, die sich für die Ausbildung von Jugendlichen einsetzen – einer der wichtigsten Pfeiler, um ihnen wieder eine Perspektive bieten zu können.  

Die Alkoholindustrie betreibt aggressive Werbung

Um das Umdenken in grösserem Rahmen anzustossen, werden auch Lehrer und Vertreter der älteren Generation in Gesprächsrunden eingeladen. «Viele Eltern wissen gar nicht, dass Alkohol schlecht ist für den Körper. Wir reden mit ihnen über Erziehungsmethoden und wie sie einen positiven Dialog mit ihren Kindern führen können, ohne körperliche Gewalt anzuwenden.» Am schwierigsten sei es, auf der strukturellen Ebene etwas zu erreichen. So sei es in Togo bis vor kurzem erlaubt gewesen, mit Alkohol im Blut Auto zu fahren. Neuerdings habe sich die Rechtslage geändert, der zulässige Promillegehalt im Strassenverkehr wird geregelt. 

Doch nach wie vor gebe es in der Präventionsarbeit in afrikanischen Ländern wenig Unterstützung von staatlicher Seite. Die Alkoholindustrie mache aggressives Marketing. Da die Leute einen schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem hätten als jene in Europa, seien auch die negativen Folgen des Alkohols sichtbarer.  

Ihre Arbeit mache ihr dennoch Mut, sagt Ganarin, die in Genf internationale Beziehungen studiert hat. «Weil ich glaube, dass es wichtig ist, was wir machen.» Sie sei zuversichtlich, dass dies längerfristig zu mehr Frieden und einer besseren Entwicklung junger Leute beitragen könne. 

«Mädchen werden weniger Opfer von Gewalt»

Ermutigend sei etwa die Geschichte einer Mutter aus Brazzaville, die durch ihren Sohn gelernt hatte, Nein zu sagen zum Alkohol. «Der Bub hatte in der Schule gelernt, dass häufiger Alkoholkonsum ungesund ist. Er wollte sich um seine Mutter kümmern. Allerdings brauchte es viel Zeit, bis sie gemerkt hat, dass es ihm nicht um Rebellion geht, sondern um ihre Gesundheit.» Nach einem Elternabend, den das Blaue Kreuz organisiert hatte, habe sie, die allerdings nicht abhängig gewesen sei, schliesslich mit dem Trinken aufgehört. «Endlich konnte der Sohn auf Augenhöhe mit ihr reden», sagt Ganarin.  

Dass ihre Projekte Erfolge zeigten, bewiesen die jährlichen Berichte von Partnerorganisationen vor Ort. Ganarin sagt: «Viele Jugendliche sind dank unserer Projekte aus der Sucht herausgekommen, Mädchen werden weniger häufig Opfer von Gewalt.» In Tschad habe man dazu beitragen können, dass sich Mädchen gegen Zwangsheirat zu wehren wüssten oder für ihr Recht einstehen könnten, auch als Schwangere zur Schule gehen zu dürfen. 

Die Nonprofit-Organisation International Blue Cross wird von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) finanziell unterstützt. Zwei Drittel der Projekte werden durch die Spenden von Privatpersonen, Kirchen und aus dem Lotteriefonds finanziert.   

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