«Nach Christophes Freitod war ich wütend und traurig»

Er war noch keine 18 Jahre alt, als er seinem Leben ein Ende setzte. Catherine Morier kennt den Grund für seinen Freitod nicht. Mit DeinAdieu sprach sie über Trauer, Zuversicht und das Adieusagen.

Acht Koffer stehen bereit im Eingang des Hauses. Familie Morier möchte an diesem Sonntagmorgen, den 20. Juli 2003, nach Spanien in die Ferien reisen. Es ist mucksmäuschenstill. Alle schlafen. Unbemerkt verlässt der damals 17-jährige Christophe das Elternhaus, schwingt sich aufs Velo und fährt durchs menschenleere Dorf. Es sind die letzten Momente seines Lebens.

Stunden später klingeln zwei Kantonspolizisten an der Haustür. Catherine Morier öffnet. Die beiden Männer grüssen knapp, betreten das Haus. Der eine legt zwei Formulare auf den Tisch, sagt, sie hätten danach Ferien. Der andere sagt:  «Wir haben ihren Sohn gefunden». Dann legt er ein blutiges Ketteli sowie eine blutverschmierte Uhr neben die Papiere. «Die Kleider haben wir entsorgt.»

Catherine Morier schweigt, schaut mich mit traurigen Augen an und holt tief Luft. Seufzt. Ich spüre ihren grossen Schmerz. «Keiner der beiden Polizisten nahm das Wort Tod in den Mund. Einer fragte beim Gehen, ob wir das Velo am Bahndamm holen würden. Der andere sagte: ‹Nein, nein, das mache ich.› Dann verschwanden sie. Später stand das Velo vor dem Haus.»

Wir schweigen wieder. Ich weiss, was damals geschah. Der Schmerz des jungen Mannes muss unendlich gross gewesen sein, die Verzweiflung mächtig.

Freitod Catherine Morier am Grab ihres Sohnes
Im verwunschenen Garten mit seinen stillen Ecken und verwinkelten Pfaden, dort wo Feen und Kobolde leben könnten, schuf die Familie ihrem Christophe ein Grab und damit allen Trauernden eine Rückzugsmöglichkeit. (Foto: Bruno Torricelli)

«Im nahen Bach fanden wir den Grabstein»

An diesem Sonntag war alles anders. Logisch dachte niemand mehr an die Carfahrt nach Spanien. «Wir sassen rum, weinten, blieben sprachlos. Später verliessen wir das Haus, spazierten ins nahe Bachtobel, suchten nach einem Stein für sein Grab.»

Am Montagmorgen war ein schwerer Gang nötig. Catherine musste mit ihrem Mann nach Zürich reisen, musste im Institut für Rechtsmedizin IRM den toten Sohn identifizieren. «Ich fragte die Kinder: ‹Wollt ihr euren Bruder noch einmal sehen?›, sie wollten, aber konnten nicht. So setzten wir uns nur zu zweit ins Polizeiauto. Wir wurden chauffiert. Eine Vorschrift. Der Polizist war überaus freundlich. Wir redeten kaum.»

Im IRM wollte Catherine mit ihrem Sohn kurz allein sein. Das ging nicht. Wie die Hinfahrt verlief die Rückfahrt ebenso schweigend.

Tage später erlebte die leidgeprüfte Mutter eine weitere Enttäuschung. «Wir erfuhren nicht, wann Christophe kremiert wurde. Ein Mitarbeiter der Gemeinde rief an, bat uns, die Urne abzuholen. Wahnsinn, ich konnte bei der Kremation meines Sohnes nicht dabei sein.» Catherine schaut mich mit grossen, traurigen Augen an.

Zehn Tage später nahm die Familie Abschied von Christophe. Catherine sagt, sie wissen nicht mehr, was nach der Beerdigung geschehen sei.

Freitod Catherine Moriers Bilder
Zwei von Catherines unzähligen Bildern. «Ich malte jeweils ohne Konzept. Liess die Pinsel gestalten, liess die Farben fliessen.» (Foto: Bruno Torricelli)

«Unsere Ehe hielt dieser Belastung stand»

Neun Monate war Catherine wie paralysiert, gelähmt. «Ich malte viel, schrie herum, heulte ständig. Die Kinder forderte ich auf, etwas zu unternehmen, etwas, das ihnen guttue. Sie trieben Sport, machten Musik, besuchten Freundinnen, Freunde.» Dass die Ehe nicht in Brüche ging, sei eine Ausnahme, sagt Catherine. «Mir war klar, jeder von uns braucht sein Hobby und seine Freundinnen, Freunde, um diese Trauer zu bewältigen.»

Im Oktober 2004, also ein gutes Jahr später, organisiert die Familie einen Gedenkgottesdienst. Alle Gäste erhielten ein Blatt Papier und konnten aufschreiben, was sie Christophe noch sagen wollten. «Die gesammelten Briefe stellten wir neben das Grab. Eine ergreifende Feier. Gegen 100 Leute nahmen sich die Zeit, Abschied zu nehmen. Jetzt war uns allen bewusst, Christophe ist nicht mehr da. Und er wird nie mehr kommen.»

«Jeder Suizid tut mir unendlich weh»

Ebenso Abschied nehmen mussten in dieser Zeit andere Familien. «Ein Jahr später nahm sich ein Freund von Christophe das Leben, dann wählte ein Lehrer den Freitod. Jeder Suizid tat mir unendlich weh. Ich sammelte Zeitungsartikel zum Thema. Und noch heute werden wir damit konfrontiert.»

Catherine Morier und ihre Familie fanden alle ihren eigenen Weg, dieses traumatische Lebensende des Sohnes, des Bruders zu verarbeiten. «Heute feiern wir Christophes Geburtstag sowie seinen Todestag. Wir beissen dann irgendwo in sein Lieblingsgericht, in einen Hamburger, und schicken uns die Selfies.»

Lange Jahre blieb Christophes Zimmer im grossen Haus unberührt. Mit der Zeit wurde es zum Musikzimmer. Der Stillgewordene sei omnipräsent, sagt Catherine Morier. «Christophes Freunde gehören immer noch zur Familie. Überhaupt, die Freundschaften die unsere Kinder pflegen, sind tiefer geworden. Sie erhielten eine neue Bedeutung.»

Freitod, Catherine Morier

Catherine Morier im Zürcher «Cinque»: «Wir feiern Christophes Geburtstag sowie seinen Todestag. Dann beissen wir irgendwo in sein Lieblingsgericht und schicken uns die Selfies.» (Foto: Bruno Torricelli)

Der «Regenbogen» half mit, die Trauer zu bewältigen

Eine grosse Bedeutung bei der Trauerverarbeitung erhielt die Selbsthilfegruppe Regenbogen. «Kurz nach dem Tod meines Sohnes, telefonierte ich der Gemeinde. Bat um Hilfe. Ein freundlicher Mann sagte, er suche etwas heraus. Später rief er zurück. Gab mir die Telefonnummer des Vereins Regenbogen. Dort treffen sich vorwiegend Eltern, die ihr Kind verloren haben.»

Anfänglich war Catherine wütend, traurig. «Ich fluchte, ich rief aus. Zeigte meine Wut. Ich forderte die Anderen ebenfalls auf: ‹Flucht. Ruft aus›. Ich war in einem Ausnahmezustand. Mir halfen die regelmässigen Treffen. Die Gespräche. Zudem kam mir entgegen, dass ich reden und zuhören kann. Ich kann helfen, mit meiner Art das Leben zu bewältigen sowie mit Schicksalsschlägen umzugehen. Manchmal setzte ich meine Begabung ein, den wunden Punkt zu treffen, ihn anzusprechen. Es gibt Momente, da braucht es ein Wort, eine Geste, eine Handbewegung. Zudem kann ich jemandem die Hand halten, kann drei Stunden schweigen. Diese Gnade braucht es. Zuhören. Stille aushalten.»

Freitod Catherine Morier
Wenn der Freitod die einzige, wohlüberlegte Lösung für ein schwerwiegendes Problem sei, solle ein urteilsfähiger Mensch diesen Weg wählen können. «Aber», sagt Catherine Morier «redet ein Kind davon, sterben zu wollen, kann eine Mutter diesem Wunsch schwer zustimmen.» (Foto: Bruno Torricelli)

Gibt es eine Pflicht zu leben?

Auf das Thema Freitod angesprochen, sagt Catherine Morier: «So wie ich das sehe, gibt es keine Pflicht zu leben. Wir wurden nicht gefragt, wollt ihr auf die Welt kommen. Warum also fragen, wenn wir gehen wollen? Warum soll ein Mensch seinen Sterbewunsch nicht durchsetzen können? ‹Freiwillig› macht das ja niemand. Wenn Suizid die einzige wohlüberlegte Lösung für ein schwerwiegendes Problem ist, soll ein urteilsfähiger Mensch diesen Weg wählen können.»

Ich sage, tragisch ist die Art und Weise, wie wir Suizid machen müssen. Wie wir andere belasten, mit einer derart aggressiven Handlung.

«Ja», sagt Catherine Morier und wendet ein: «Wollen sich Angehörige das Leben nehmen, fällt es einen natürlich schwer, zu urteilen, wie ich das schilderte. Sagt ein Kind: ‹Ich will sterben›, kann eine Mutter diesem Wunsch noch schwerer zustimmen.»Sie schweigt. «Und verhindern kann sie es erst recht nicht. Wählt jemand den Freitod, erleiden Angehörige ein grosses Trauma.»

Freitod Catherine Morier
Die weisse Orchidee auf dem Fensterbrett im Zimmer des Stillgewordenen erinnert an seine Liebenswürdigkeit, seine Fröhlichkeit, sein sonniges Wesen. (Foto: Bruno Torricelli)

Hätte jemand diesen Freitod verhindern können?

«Verhindern? Wer weiss das?», sagt Catherine Morier fragend und legt eine Pause ein. «Ich hatte Angst, dass es passieren könnte. Nur, reden konnten wir nicht. Ich werfe mir heute noch vor, nicht direkt und ehrlich nach seinem Wohlbefinden gefragte zu haben. Ich bereue mein Schweigen zutiefst. Hilfe wollte er keine. ‹Näherte› ich mich ihm, stiess er mich weg. Nur mit unserem Hausarzt tauschte er sich aus. Und der redete nicht einmal nach Christophes Tod mit mir. Als ich wissen wollte, ob er die Gründe gekannt habe, ob er geahnt habe, was mein Bub vorhatte, erhielt ich keine Auskunft. Und das, obwohl unser Sohn bei seinem Tod noch keine 18 Jahre alt war.»

 

Sein Tod war kein Hilfeschrei. Er wollte gehen

Mit der Zeit reifte die Einsicht, dass niemand Christophes Tod hätte verhindern können. Ein Hilfeschrei sei es nicht gewesen, sagt die Mutter. «Er wollte gehen. Er wollte endlich diesem unerträglichen Stress der heutigen Welt entfliehen.»

Catherine, fürchtest du dich vor dem Sterben, vor dem Tod?
Nein, eigentlich nicht. Ich sage den Menschen bei jeder Gelegenheit, wie gerne ich sie habe. Ich rede mit den Leuten ebenfalls über meine Sorgen. Aber einmal dahinsiechenwill ich nicht. Auf keinen Fall. Und das wissen meine Angehörigen.

Was glaubst du, wohin gehen wir, wenn wir diese Welt verlassen?Ich will nirgendswo hin. (Sie kichert etwas schelmisch.) Ich reise im irdischen Leben schon nicht gerne, also warum sollte ich mich nach dem Stillwerden auf die längste Reise begeben?

Kommen wir wieder? Gibts eine Seelenwanderung?
Nein. Bin ich einmal tot, geschieht nichts. Wenn die Angehörigen möchten, sollen sie sich ausmalen, was immer ihnen guttut. Für mich ist die Seelenwanderung ein Wunschdenken. Das ist meine heutige Meinung. Ob ich das in zehn Jahren noch denke, werden wir sehen.

Was machts mit dir, wenn du wüsstest, du würdest heute Nacht still, schmerzlos und ohne Furcht sterben?
Das fände ich echt schade, ich hätte doch noch Dinge zu erledigen. Aber wen interessiert das? Die Leute wissen, ich habe sie gern. Abschied von einem Menschen nehme ich bei jedem Mal ganz bewusst. Ich umarme sie, und das freut sie.» Catherine lässt ihre Worte wirken. «Darum sage ich ‹Adieu› und nicht ‹Au revoir›.

Wir umarmen uns. Ich sage: «Adieu Catherine, à bientôt».

Text: Martin Schuppli, Fotos: Bruno Torricelli

Freitod Catherine Morier mit Bilbo und DeinAdieu-Autor Martin Schuppli
Ein Adieu-Knuddel für Bilbo. Autor und Befragte sind sich einig. Es gibt Menschen, die sind manchmal froh, eine Fellnase als Begleiter zu haben. (Foto: Bruno Torricelli)

DeinAdieu berichtete in diversen Blog-Beiträgen über die Thematik Freitod/Suizid

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