Frühchen: Verschiebt sich die Grenze der Lebensfähigkeit nach unten?

Immer kleiner, immer unreifer? Vor 30 Jahren sorgten Frühchen mit 28 Wochen für Schlagzeilen, heute retten Ärzte Frühchen in einem Stadium, in dem in manchen Ländern noch legal abgetrieben werden darf.

Dr. Alois Birbaumer, ehemaliger Kinderarzt in Cham ZG und DeinAdieu-Autor Martin Schuppli unterhielten sich zum Thema Lebensfähigkeit von Frühchen mit Dr. Markus Hodel, Chefarzt Geburtszentrum und Fetomaternale Medizin Frauenklinik Luzern, Co-Leiter Perinatalzentrum Luzern.

Herr Dr. Hodel: Versucht die Medizin zukünftig, mit immer mehr Technik das Leben noch unreifer Kinder zu erhalten? Wo wird die Grenze der Lebensfähigkeit in 10 oder 20 Jahren sein?
Dr. Markus Hodel: Biologisch und mechanisch sind der Therapie von Frühgeborenen aktuell Grenzen gesetzt. Denken Sie etwa an die Kanülen, die wir bei einem Frühgeborenen anwenden müssen, damit die lebensnotwendigen Infusionen und die Beatmung erfolgen können. Sie müssen eine gewisse Grösse oder einen gewissen Durchmesser haben. Diese Kanülen, sind bei einem Kind, das rund 250 Gramm schwer ist, nicht mehr applizierbar.

Sie stossen also an Grenzen?
Bei der Versorgung eines Kind mit einem Gewicht unter 250 Gramm stossen wir mit heutiger Technik an biologische Grenzen. Egal, ob Ärztinnen, Ärzte sich überhaupt auf eine Therapie einlassen würden.

Die Organreife spielt sicher ebenfalls eine Rolle?
Diese Grenze ist aktuell die 22./23. Schwangerschaftswoche. Dann sind vor allem die Organe, und hier prominent die Lunge, definitiv nicht so ausgebildet, dass man sie beatmen kann, um ein Kind am Leben zu erhalten.

Frühchen
Babys, die zu früh auf die Welt kommen, brauchen Zeit, um das Versäumte nachzuholen. Sie sind vier, sechs oder sogar noch mehr Wochen jünger als andere Kinder, die termingerecht geboren wurden – und das macht am Anfang des Lebens eine Menge aus.

Verschieben sich diese Grenzen?
Einer weiteren Senkung des Gestationsalters zur Therapie der Frühgeburtlichkeit stehe ich kritisch gegenüber. Ich denke, auch in zehn Jahren wird die Grenze bei der circa 22. bis 23. Schwangerschaftswoche sein.

Und in 20 Jahren?
Dann kann ich mir vielleicht eine Grenze auf 20. bis 21. Schwangerschaftswochen vorstellen. Wenn neue Medikamente, eine bessere Technik es ermöglichen, dass Organe besser reifen.

Wann soll Leben beginnen? Wenn sich Mediziner nicht einig sind, müssen Eltern diese Entscheidung für ihr Kind treffen.
Am Perinatalzentrum erfolgen kontinuierlich Diskussionen über die Lebenserhaltung bei Frühgeborenen. Es ist kein Zufall, in welcher Schwangerschaftswoche wir „alles machen“ für das Kind. Den Entscheidungen gehen harte Diskussionen voraus, in welchen Ärzte, Hebammen und Pflegepersonal einen Konsensus erarbeiten.

Wie Sie sagten, beziehen Sie und Ihr Team Eltern prominent in die Entscheidungsfindung mit ein.
Selbstverständlich lassen wir die werdenden Eltern in diesen Schicksalsmomenten nicht allein, sondern begleiten sie verantwortungsvoll und empathisch. Ihre Ideen und Vorstellungen gleichen wir mit unseren ab. Wir sind in einem kontinuierlichen Dialog.

Können Sie sich gut abgrenzen? Nach Tagen, an denen Kinder starben, Eltern sehr traurig waren?
Jein. In meinem langen Berufsleben musste ich zwangsläufig lernen, mit diesen Schicksalen der Eltern und der Kinder umzugehen. Dabei hat mir immer wieder geholfen, dass ich mit einem tollen Team zusammenarbeite. Wir unterstützen uns gegenseitig. Ebenfalls wichtig: eine verständnisvolle Partnerin.

Aber immer können Sie kaum abschalten
Nicht immer, nein. Es kommt vor, dass ich schwere Schicksalsschläge mit nach Hause trage und dort «setzen» lassen muss. Allein, auch mal auf einem Spaziergang, mit Musik oder Sport. So gelingt es mir, schwierige Entscheidungen und Ereignisse zu verarbeiten.

Wer tröstet Eltern? Bringt ihnen bei, was Sache ist?
Die Mitteilung, dass es bei einem Kind nicht mehr Sinn ergibt, weitere intensivmedizinische Massnahmen vorzunehmen, überbringen ärztliche Kaderpersonen.

Danach braucht es das Team.
Für das Trösten und die Verarbeitung dieses sehr schwierigen Ereignisses braucht es die professionelle Mitarbeit aller. Für Psychologinnen, Pflegende, Ärztinnen und Ärzte gilt es, die Eltern sehr ernst zu nehmen und sie für eine längere Zeit zu begleiten.

Betrachten Sie den Tod als Fügung oder Schicksal?
Als Ärztin/Arzt ist es unsere Aufgabe, Leben zu erhalten, also lebenserhaltende Therapien durchzuführen. Das heisst konkret, dass wir als Perinatalzentrum Luzern im Team versuchen, all unsere Kraft, unser Wissen und unsere Fertigkeiten für die Gesundheit des Kindes oder der Mutter einzusetzen.

Leider gelingt das nicht immer
Ja, und dann bleibt offen, ob wir dies nun Schicksal oder Fügung nennen. Wichtig ist für mich, zu erkennen, dass die ärztliche Kunst ihre Grenzen hat. Und deshalb gerade in diesen Situationen eine gewisse Demut an den Tag zu legen.

Interview: Dr. Alois Birbaumer und Martin Schuppli | Foto: Peter Lauth

Das war der zweite Teil des grossen Interviews mit Dr. Markus Hodel. Den ersten Teil lesen Sie hier

Wird der Mutterleib einmal durch eine künstliche Gebärmutter ersetzt?

Durchaus möglich. Verschiedene Forschergruppen wollen künstliche Gebärmütter generieren. Einer japanischen Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Yoshinori Kuwabara von der Juntendo Universität ist es gelungen, Ziegen mithilfe einer künstlichen Gebärmutter schwanger werden zu lassen. Dr. Alan Flake in Philadelphia gelang dies mit Schafen.

Eine andere Gruppe an der Cornell Universität ist es gelungen, aus veränderten Genen Gebärmutterschleimhautgewebe zu einem spezifischen Gebärmutter-Scaffold auszubilden und dort Mäuseembryos anwachsen zu lassen. Dies sind erste Ansätze, es wird sicher noch einige Zeit brauchen, bis solche Techniken im Humanbereich Einzug finden.

Was heute bereits an verschiedenen Orten durchgeführt wird, ist eine Uterustransplantation. Das heisst zum Beispiel, dass einer Frau, die aus verschiedenen Gründen keine Gebärmutter hat, eine solche transplantiert werden kann. Mit dem Ziel, dass sie danach schwanger werden und auch ein gesundes Kind austragen kann.

Luzerner Kantonsspital LUKS
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