Altersmedizin: Interdisziplinäres Teamwork nötig

Patientenwünsche stehen in der Altersmedizin im Mittelpunkt. Palliativmediziner und Geriater Roland Kunz erklärt, wie interdisziplinäres Teamwork den Patienten hilft.

Dr. Roland Kunz, 61, ist es sich gewohnt, umzudenken. Der Geriater, Palliativmediziner und ärztliche Leiter am Bezirksspitals Affoltern am Albis sieht in der Altersmedizin die grosse Herausforderung. «Geriatrie ist kein Rationierungsmodell. Wir verweigern niemandem eine Behandlung, nur weil er, weil sie 85 Jahre alt ist. Wir denken um. Schauen frühzeitig die Gesamtsituation eines Patienten an. Beraten ihn interdisziplinär. Deshalb macht Geriatrie, so wie wir sie hier am Bezirksspital Affoltern verstehen, die Medizin nicht teurer. Im Gegenteil. Und sie erhöht die Lebensqualität älterer Menschen.»

Alte nicht gleich wie Junge behandeln

Geriatrie ist keine neue Disziplin. Alte Menschen gabs schon immer. Und sie sind heute noch die häufigsten Patienten. Dr. Roland Kunz: «Bis vor 10, 15 Jahren behandelten wir Ärzte die Alten gleich wie die Jungen. Heute fragmentiert die zunehmende Spezialisierung den alten Menschen. Orthopäden wollen das Beste für Knochen, Diabetologen senken den Blutzucker, Phlebologen kümmern sich um die Venen, Kardiologen ums Herz, Gastroenterologen um die Verdauungsorgane, Neurologen um die Nerven. Und all diese Spezialisten, wollen nur eines: das Beste für ihre Patienten.» Wirklich?

Altersmedizin: Nur das Nötige möglich machen

Interessiert es einen dieser Spezialisten, dass beispielsweise ein zu aggressiv behandelter Bluthochdruck bei über 80-Jährigen Schwindel und als Folge davon Stürze verursachen kann, die zum Verlust der Selbstständigkeit führen können? Oder dass ein zu streng behandelter Diabetes unbemerkte Unterzuckerungen mit bleibenden Schäden zur Folge haben kann? Den Geriater interessiert es. Er möchte seinen Patienten das Altsein erleichtern. Er denkt voraus, denkt präventiv und nicht reaktiv. Für ihn stehen die Patientenwünsche im Mittelpunkt. «Wenn wir mit einem etwas höheren Blutdruck, das Sturzrisiko eines alten Menschen senken können, steigert das seine Lebensqualität», sagt Roland Kunz. «So mag der höhere Blutdruck sogar ein Leben verlängern. Denn wer stürzt, bricht sich vielleicht den Oberschenkelhals. Und dieser Bruch ist bei alten Menschen oft der Anfang vom Ende.» Roland Kunz hält inne und sagt dann: «Bei über 80-Jährigen ist ein Blutdruck von 120 möglicherweise schlechter, als ein Blutdruck von 160. Diese Erkenntnis bringt medizinisches Gedankengut durcheinander.»

Coaching mit interdisziplinärer Zusammenarbeit

Ein Altersmediziner schaut genau hin: «Wir wollen wissen, was aus Sicht eines alten Menschen wichtig ist. Wir betrachten die subjektive Situation. Etwa das Wohnen, der soziale Bereich. Wir erfassen viele Daten und machen nach ausführlichen Gesprächen Zielformulierungen», sagt Roland Kunz. «Wir schauen also nicht einzelne Problematiken an, sondern behalten die Lebensqualität im Auge. Oft fallen dann viele medizinische Massnahmen wie Cholesterinsenker, fragwürdige Herzoperationen oder aggressive Krebsbehandlungen weg. Denn mit 80 Jahren will jemand vielleicht nicht mehr so lange wie möglich leben, sondern so gut wie möglich.»

Mit 80 Jahren ist man alt

Und wann, fragt der Autor, beginnt das Alter? Wann ist ein Mensch alt? «Alt ist man heute vielleicht mit 80 Jahren», sagt der Geriater und Palliativmediziner. «Das biologische Alter hat sich verschoben. Die Multimorbidität steigt ab 80.» Diese Verschiebung ist die Folge verbesserter Medikamente, ausgeklügelter technischer Möglichkeiten und allenfalls eines gesünderen Lebenswandels.

Ein geflicktes Herz verhindert schnellen Herztod

Früher wollte man einem älteren Menschen keine grosse mehrstündige Herzoperation zumuten. Heute aber, wo Herzklappen mittels minimalinvasiven Eingriffs geflickt werden, kommen auch über 80-Jährige in Genuss so einer Behandlung. Roland Kunz: «Das Herz ist geflickt, ein plötzlicher Herztod unwahrscheinlich, dafür entwickelt jemand eine Demenz. Da drängt sich bei mir die Frage auf: Will er das?»

Der Geriater wägt mit seinem Patienten, seiner Patientin Nutzen und Schaden einer Behandlung ab. «Früher brach jemand den Schenkelhals. Er wurde operiert, nach Hause gebracht und dann?» Roland Kunz lässt die Frage kurz im Raum stehen. «Für einen Geriater ist klar: Niemand fällt einfach so um. Dieses Fallen müssen wir anschauen. Wir müssen fragen: Stimmt die Ernährung? Wie ist es um die Muskulatur, um die Sehfähigkeit bestellt? Was könnte sein Gleichgewichtsgefühl beeinträchtigen? Welche Medikamente bergen welche Risiken? Benutzt er geeignete Gehhilfen? Alle, gar alle körperlichen Funktionen müssen wir unter die Lupen nehmen. Es gilt, die kognitiven Fähigkeiten anzuschauen. Wir machen Screeningtests, überprüfen die Wohnsituation, reden über Patientenverfügung, über das Testament, fragen nach Vertrauenspersonen, nach allfälligen Vollmachten. Versuchen, möglichst viele spätere Probleme vorausschauend zu regeln. Da sind eine Menge Gespräche nötig. Interdisziplinäres Zusammenarbeiten ist gefragt.» Beteiligt an diesem Prozess sind neben den Ärztinnen und Ärzten, Physio- und Ergotherapeutinnen, Sozialarbeiter, die Spitex, der Hausarzt sowie Psychologen.

Ziel ist ein langes und komfortables Leben

In diesen Fällen wird der umsichtige Geriater zum eigentlichen Coach für seine Patienten und für dessen Angehörige. Ziel der gemeinsamen Anstrengungen ist es, den Senioren ein möglichst langes, selbstständiges und komfortables Leben zu ermöglichen.

Wer Altersmedizin in Anspruch nehmen möchte, meldet sich frühzeitig bei einem Geriater. Am besten vor dem verheerenden Sturz. «So ein Ereignis darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen», sagt Roland Kunz. «Wer früh genug hinschaut, kann Jahre gewinnen.»

Mit geriatrischer Kompetenz Geld verdienen

Gewinnen kann auch ein Spital. Statt möglichst viel Fälle zu verarbeiten und zu verrechnen, setzt das Bezirksspital Affoltern auf Akutgeriatrie. «Wir optimieren die Prozesse. Lassen ein klar strukturiertes Programm ablaufen. Die Zielsetzung ist klar definiert. Patienten sind nur zwei bis drei Wochen bei uns.»

Können das grössere Kliniken nicht, will der Autor wissen? Roland Kunz schüttelt den Kopf: «Unser Vorteil ist das kleine Spital. Bei uns funktionieren direkte Kontakte. Wird beim morgendlichen Arztrapport klar, dass jemand ein Patient ist für die Akutgeriaterie, können wir ihn sofort übernehmen. Die Entscheidungswege sind kurz, die Patienten viel schneller rundum versorgt.» Sie verlassen das kleine Spital umfassender abgeklärt und behandelt als es in einer grossen Klinik der Fall wäre und besser gerüstet für das Leben zu Hause.»

Pro Senectute Kanton Zürich testet Pilotprojekt im Bezirk Affoltern

An so einem System arbeitet auch Pro Senectute. Das Projekt heisst «CareNet+». Das Koordinationszentrum für Gesundheit und Soziales betreut Personen, die aufgrund eines komplexen Krankheitsbildes individuelle, fallspezifische Hilfe im gesundheitlichen und sozialen Bereich benötigen. Dabei gilt es vor allem, Risiken zu erkennen, bevor ein Unfall oder eine Krise geschieht. Die Leute sollen früher abgeholt und beraten werden, Anlaufstellen sollen niederschwellig sein.

Mitinitiator für den Testlauf ist die Akutgeriatrieklinik des Bezirksspitals Affoltern. Sie pflegt bereits ein Netzwerk von Hausärzten, Spitex, Gemeindebehörden. Die Hilfe für Patienten soll umfassend sein. So wird auch unterstützt, wer beispielsweise mit Finanzen und administrativen Dingen überfordert ist. «Oberstes Ziel aller unserer Anstrengungen ist: Die Menschen sollen so lange wie möglich in gewohnter Umgebung bleiben können», sagt Roland Kunz. Diese Testphase wird bezahlt von Pro Senectute Kanton Zürich, Stiftungen, zwei Krankenkassen und den Gemeinden.

Text: Martin Schuppli | Fotos: Bruno Torricelli

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