«Plötzlich haben sie es mit einem anderen Menschen zu tun, mit dem sie die Kommunikation wieder finden müssen»

Sie war jahrelang in der Politik tätig. Nun arbeitet Giovanna Battagliero als Direktorin der Schulungs- und Wohnheime Rossfeld, wo rund 430 Menschen mit einer angeborenen Beeinträchtigung oder nach einem Unfall Betreuung und Therapien erhalten. Sie sagt, weshalb oft auch deren Angehörigen Unterstützung brauchen.

Giovanna Battagliero ist die neue Direktorin Stiftung Schulungs- und Wohnheime Rossfeld – einem Kompetenzzentrum für Menschen mit körperlicher Behinderung. © Manu Friederich

Sie war Geschäftsleitungsmitglied im Bundesamt für Sozialversicherungen, Präsidentin der SP Bern, politisierte im Berner Stadtrat und im Grossen Rat und hatte neun Jahre lang das Amt der Präsidentin des Kaufmännischen Verbandes Bern inne. Nun ist sie seit Dezember 2021 die neue Direktorin der Stiftung Schulungs- und Wohnheime Rossfeld, welche die berufliche und persönliche Integration von Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung unterstützt. Was hat Giovanna Battagliero hier gesucht? «Etwas Konkreteres», sagt sie. «In meinem neuen Alltag steht der Mensch im Zentrum. Die Arbeit ist sehr sinnstiftend.» Sie beschäftige sich zwar auch hier hauptsächlich mit Finanz- und Führungsfragen. «Der tägliche Austausch mit Bewohnenden, Schülerinnen und Schülern und Mitarbeitenden und das unmittelbare Feedback schätze ich sehr. Aber auch, dass man nach Entscheiden schnell ein Resultat sehen kann», sagt sie.

Das gemäss Battagliero grösste Kompetenzzentrum für Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung in der Deutschschweiz bietet insgesamt rund 430 Menschen zwischen vier Jahren und über das Pensionsalter hinaus Ganztagsbetreuung, Therapieleistungen und Schulunterricht an. Rund 60 Schülerinnen und Schüler werden hier beschult und werden dafür aus dem ganzen Kanton hergefahren. Für die Schulkinder gibt es die Möglichkeit, während der Woche zu übernachten. «Wir haben derzeit etwa zehn Kinder, die maximal vier Nächte hier schlafen», sagt sie.

Auch gibt es ein ambulantes Angebot in regulären Schulklassen, dank dem 180 Kinder ausserhalb der Institution betreut und begleitet werden. Zudem betreuen Assistenzpersonen etwa KV-Lehrlinge im pflegerischen Bereich, während diese den Unterricht an der regulären Berufsfachschule WKS KV Bildung Bern besuchen können. «Das ist ein einzigartiges Angebot.» Die Erwachsenen wohnen in Einzel- oder Zweibettzimmern auf Wohngruppen. Im Wohncoaching lernen sie, wieder einen Haushalt zu führen, ihr Essen zu organisieren, zu kochen oder zu putzen.

Das grosse Ziel ist die Inklusion in die Gesellschaft

Die meisten von ihnen, rund 60 Prozent, leiden an einem Geburtsgebrechen, etwa einer Zerebralparese, Spina Bifida. Andere sind an Muskeldystrophie oder Multipler Sklerose erkrankt oder hatten Unfälle oder Schlaganfälle, die zu Schädelhirntraumata, einer Tetraplegie oder einer zerebralen Beeinträchtigung führten. «Vermehrt kommen etwa Menschen nach einem Unfall oder Schlaganfall direkt aus der Rehaklinik zu uns.»

Das grosse Ziel sei die Inklusion in die Gesellschaft. «Wir möchten die Menschen befähigen, ihren eigenen Weg zu gehen, wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen.» Dazu gehört etwa auch, Jugendlichen eine Ausbildung und die Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Battagliero ist zuversichtlich. «Für dieses Jahr haben schon alle Oberstufenschülerinnen und -schüler eine Anschlusslösung gefunden.»

Die Bernerin schaut immer wieder bei Therapiestunden wie der Ergotherapie oder Physiotherapie rein. «Es ist faszinierend, die kleinen und grossen Fortschritte der Patientinnen mitzuverfolgen», sagt sie. Und erzählt etwa von einer Frau, die bei einem Velounfall ein Schädelhirntrauma erlitten hatte und nun Hirntrainings absolviert. Das geschieht nicht nur beim Memoryspielen, sondern auch anhand alltäglicher Dinge, die einst so selbstverständlich funktionierten, zum Beispiel das Backen: «Eine Frau musste wieder lernen, ein Rezept auszusuchen, die Zutaten vorzubereiten, die Vorgaben zu lesen und dank manueller Fähigkeiten umzusetzen», sagt Battagliero.

«Es ist faszinierend, die kleinen und grossen Fortschritte der Patientinnen mitzuverfolgen», sagt Giovanna Battagliero. © Manu Friederich

Oft müssten auch die Angehörigen begleitet werden, für die es sehr schwierig sein könne, mit der neuen Situation umzugehen. Sei es, wenn sich der Zustand verschlechtert oder nach einem Unfall: «Plötzlich haben sie es mit einem anderen Menschen zu tun, mit dem sie die Kommunikation wieder finden müssen. Auch hier leisten unsere Leute einen grossen Beitrag.» Rund 270 Mitarbeitende aus über 30 Berufen zählt die Stiftung.

Die Stiftung bietet neben der Schulausbildung auch eine Tagesstätte. So arbeiten die Klientinnen und Klienten etwa im Callcenter, scannen Fotoalben ein, erledigen die Adressverwaltung oder Versandaufträge. In den Ateliers arbeiten sie mit Ton und Holz oder malen. Die Produkte werden verkauft. Auch Bewegung und Sport bilden einen wichtigen Pfeiler. Die Sportstunden der Berufsschülerinnen und -schüler und die wöchentlichen Bewegungsstunden für die Erwachsenen werden so angeboten, dass jede und jeder mitmachen könne. «Zudem haben wir eine eigene Powerchair Hockey Mannschaft.» Die Nachwuchsförderung der Elektrorollstuhl-Hockeyspieler sei ebenfalls bei der Stiftung angesiedelt. Im August findet die WM in Nottwil statt.

Die Beeinträchtigungen werden schwerer, die Klienten älter

Mit welchen Entwicklungen beschäftigen sie sich heute? Die medizinischen Fortschritte stellen die Institution vor neue Herausforderungen, sagt Battagliero. Einerseits können viel mehr Menschen in die Selbstständigkeit begleitet werden. Anderseits würden die Beeinträchtigungen der Klientinnen und Klienten des Rossfeld immer schwerer und sie würden immer älter. «So müssen wir unser Angebot und die Betreuung anpassen und uns Themen wie Palliative Care stellen.»


Und wofür braucht die Stiftung Spenden?

Obwohl die Stiftung Leistungsverträge mit dem Kanton Bern und der IV Bern hat, ist sie auf Spenden angewiesen. Für alles, was an Freizeitaktivitäten geboten werden soll, auch für Innovationen und die Digitalisierung. Battagliero nennt Beispiele. Eine Schaukel und ein Karussell, die mit dem Rollstuhl befahrbar sind, eine inklusive Rutschbahn oder Computerspiel-Events für unsere Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. «Ohne Spenden wären Freizeitaktivitäten wie etwa auch Museumsbesuche, Ferienlager oder Ausflüge mit Alpakas nicht möglich», sagt sie. Diese Abwechslung im Alltag sei aber sehr wichtig und fördere die Inklusion und Teilhabe. So etwa auch die Bar, die jeweils freitagabends betrieben wird und wo sich Jung und Alt treffen.

Battagliero, so scheint es, ist am richtigen Ort angekommen. «Geschichten und Schicksale berühren und motivieren mich», sagt Battagliero. So etwa jenes der ehemaligen Bewohnerin Anik Mumenthaler, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt. Sie absolvierte in der Stiftung die KV-Lehre und anschliessend die Berufsmatura. Heute arbeitet sie hier im Sekretariat der Therapie, wohnt selbstständig und managt 16 Assistenzpersonen. Oder jenes der Bewohnerin Jasmin Lanz, die ihr Leben nach einem schweren Unfall wieder selbst in die Hand nehmen möchte, wie sie sagt: «Im Wohntraining der Stiftung Rossfeld erhalte ich die Hilfsmittel und den Ansporn dazu. Damit ich bald selbstständig wohnen kann, habe ich gelernt, meine Kleider selbst zu waschen und mein Zimmer zu reinigen.» Als Nächstes werde sie üben, selbst zu kochen.»

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