Christina Sgier: «Märchen zeigen Wege auf, den Tod zu akzeptieren»

Sie erzählt Märchen. Fesselt ihr Publikum mit Geschichten, die Bilder hervorrufen, Gefühle wecken und Mysterien greifbar machen. Christina Sgier kennt den Tod im Märchen und erzählt uns, wie Freund Hein in der Regel auftritt und welche Rolle er einnimmt. 

Märchen spielten eine grosse Rolle, als ich das Lesen entdeckte. Vor über sechzig Jahre erhielt ich ein wunderschönes Bilderbuch, auf dem Titelbild war ein Hund abgebildet, dessen Augen mir wie Feuerräder erschienen. Vor ihm stand ein Soldat.

«Das Feuerzeug» heisst das Märchen von Hans Christian Andersen. Es handelt von einem heimkehrenden Soldaten, der einer angsteinflössenden Hexe hilft, das magische Feuerzeug zu bergen. In der unterirdischen Kammer eines mächtigen, uralten Baumes lernte er drei Hunde mit «feurigen» Augen kennen. Sie bewachten einen gewaltigen Schatz – und zuunterst findet der tapfere Soldat das versteckt Feuerzeug. Den anschliessenden Streit um das Zauberding überlebt die Hexe nicht. Später, im Verlauf der Geschichte, gelingt es dem schlauen Mann mithilfe der Hunde, die schlafende Prinzessin aus dem Schloss zu befreien und in sein Haus zu holen. 

Das geht anfänglich nicht gut aus. Der Soldat wird gefangen genommen und sollte gehenkt werden. Auf dem Galgen bittet er, ein letztes Pfeifchen schmauchen zu dürfen und zaubert mit seinem Feuerzeug die Hunde herbei. Diesen Showdown überleben der König und seine Vasallen nicht. Das Märchen endet mit einem Umzug des Soldaten und seiner Prinzessin in der Königskutsche. An der Spitze führen die drei Hunde den Zug an. Die Prinzessin ist zufrieden, weil sie aus ihrer Gefangenschaft im Kupferschloss freikommt und Königin wird.

Christina Sgier, Märchen-Erzählerin
«Als ich jünger war und mit Lesen begann, waren es Märchenbücher, die mich fesselten», sagt Christina Sgier. (Foto: Peter Lauth)

«Mir gefielen die ‹gefährlichen› Märli besser»

So schön. Die Geschichte vom Feuerzeug ist ein alte Geschichte, genauso die Märchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Sogenannte Kunstmärchen sind die berührenden Erzählungen von Ernst Wichert. Einem Autor, der seine Märchen, entstanden im letzten Winter des Zweiten Weltkrieges, den armen Kindern und Völkern widmete. Diese kunstvoll eingebundenen Bücher zählen nach wie vor zu den Kleinoden in meiner Bibliothek. Ebenso die zerfledderten Grimmschen Märchenbücher. Die Brüder sammelten Volksmärchen und gaben ihnen ihre eigene Sprache.

Als ich Christina Sgier, 67, kennen lernte, sagte sie mir, dass sie Märchenerzählerin sei. Im Gespräch kamen wir auf den Tod zu sprechen, und schon steckten wir mitten in unserer Geschichte.

Christina, wer bist du, wollte ich wissen. Sie lacht und verschränkt die Arme über ihren Latzhosen. «Spontan würde ich sagen, ich bin ich. Ein Kind aus den Fünfzigerjahren. Aufgewachsen in intaktem Elternhaus. Es waren bescheidene Verhältnisse, aber uns mangelte es an nichts. Vater und Mutter waren sehr belesen, und ich, seit ich denken kann, von Büchern umgeben.» Am Abend hätten die Eltern ihren Kindern, einem Buben und zwei Töchtern, aus Büchern vorgelesen. Vater sei gelernter Buchbinder gewesen und hätte in der Zürcher Zentralbibliothek gearbeitet. «Als ich jünger war und mit Lesen begann, waren es Märchenbücher, die mich fesselten. Etwa die Märchen der Brüder Grimm oder die von Bechstein, Hauff und Andersen. Als junge Erwachsene begann ich, die ‹Märchen der Weltliteratur› aus dem Eugen Diederichs Verlag zu kaufen und zu sammeln.» 

Christina lernte Pharma-Assistentin, heiratete, gebar zwei Buben, erzählte ihnen ebenso all die Märli. Und das in den Achtzigerjahren, als man darüber werweisste, ob Märchen zu brutal seien für Kinder. «Mir gefielen die ‹gefährlichen› Märli besser», sagt Christina und lacht, erzählt Folgendes: «Da tötet die Mutter ihren Stiefsohn, kocht ihn und begräbt die Knochen.» So geschehen im «Machandelbaum» der Brüder Grimm. «Da ich als Kind die grausamsten Geschichten am meisten liebte und trotzdem keinen Hang zu Grausamkeiten entwickelte, konnte ich mir nicht vorstellen meinen eigenen Kindern zu schaden.» Sagts und klatscht vergnügt in die Hände.

Christina Sgier, Märchen-Erzählerin
Spannend erzählt uns Christina Sgier eines ihrer Märli, das von der Beutelratte, die sich Fledermausen wollte. (Foto: Peter Lauth)

Die Beutelratte wollte «Fledermausen»

Christina Sgier sagt, sie habe ein Vierteljahrhundert in der Geriatrie gearbeitet und den Betagten gerne Geschichten vorgelesen, resp. erzählt. Zum Beispiel die von der Beutelratte, die sich fledermauste. 

Nah dann los, Christina, erzähl’ bitte. 

Es war einmal eine Beutelratte, die war ihr altes Leben müde und sagte sich: «Ich bin zu alt für das Rattenleben und zu langsam, meine Beine sind schwer und wollen nicht mehr. Es ist Zeit, dass ich mich verwandle. Aber was soll ich werden? Ich will im Dunkeln meinen Weg finden, ohne, dass man mich sieht. Soll ich etwa eine Schabe werden? Lieber nicht. Die Leute würden mich verachten und zertreten. Soll ich besser eine Schlange werden? Ach nein, dann wird man mich fürchten und hassen. Ich will eine Fledermaus werden. Die fliegt durch die Nacht und frisst reife Bananen.»

Und dann begann die alte Ratte aus dem Volk der Opposums, sich zu fledermausen. Mit ihrem langen Schwanz und ihren Hinterpfoten hielt sie sich fest an einen Zweig. So wie es die Fledermäuse tun, hing sie mit dem Kopf nach unten am Ast. Sie schaukelte etwas und bekam den Hitsgi-Hätzgi.

(Fortsetzung weiter unten)

Da bau ich nun einen «Cliffhanger» ein, unterbreche das Volksmärchen aus Südamerika im spannendsten Moment und will von der Märlifee wissen, wann sie mit dem Erzählen begonnen habe.

Christina Sgier, Märchen-Erzählerin und DeinAdieu-Autor Martin Schuppli
Nicht immer verbreitet der Tod im Märchen Angst und Schrecken, sagt Christina Sgier DeinAdieu-Autor Martin Schuppli. «Es gibt Schalkmärchen, wo es gelingt, den Tod auszutricksen, ihm ein Schnippchen zu schlagen.» (Archivbild, Peter Lauth)

«Der Tod ist ein globales Phänomen»

«Als mein jüngerer Sohn heiratete» sagt Christina Sgier, «wollte ich ihm etwas Besonders schenken und engagierte eine Märli-Erzählerin. Mein Ex riet mir damals, ich solle doch selber erzählen. Aber das wollte ich nicht. Seither lassen mich die Märchen nicht mehr los. Ich entschied, diese Kunst zu lernen und begann die Ausbildung – einfach für mich.»

Christina erzählt Volksmärchen. Eine Rolle dabei spielt oft der Sensemann, auch Schnitter, Thanatos oder Freund Hein genannt. «Das ist überall so», sagt Christina. «In allen Kulturen, ob bei Naturvölkern oder in hochentwickelten Gesellschaften. Der Tod ist ein globales Phänomen.» 

Spielt er dabei meist eine traurige Rolle? Verbreitet er immer Angst und Schrecken? Nein, nein das tue er nicht, sagt Christina. Es gäbe sogar Schalkmärchen, wo es gelinge, den Tod auszutricksen, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Oder, er würde selber merken, dass die Zeit für jemanden noch nicht gekommen sei. «Märchen zeigen Wege auf, den Tod zu akzeptieren», sagt Christina Sgier, «weil er zum Leben gehört.»

«Der Tod steht für Wandlung»

Herkömmliche Märchen beginnen oft mit einem Schicksalsschlag, resp. es wird von einem Tod erzählt, der die Geschichte eröffnet, ihr eine Grundlage gibt. Da tritt etwa eine Witwe auf, eine arme alleinerziehende Mutter, ein Waisenkind. Der Tod wird als gegeben beschrieben, dann beginnt die Geschichte. Ich frage Christina, was der Tod in dieser Form für eine Bedeutung habe. 

«Die Erzählung geht aus von einer Mangelsituation, aus dieser man sich befreien muss. Sich auf den Weg machen muss, das Glück zu finden. Ein Kind muss sich zum Beispiel von den Eltern lösen und wird für diese Ablösung oft verstossen», sagt die Erzählerin. «Der Tod steht für Wandlung. Nicht immer kommt er als Sensemann daher. Er kann als symbolkräftiges Objekt auftreten. Etwa als Glasberg. Der steht für Starre, für das Totenreich oder für das Paradies. Es sind Urbilder, die wir nicht mit dem Intellekt erfassen können. Der Tod heisst loslassen, um einen neuen Anfang zu machen.»

Christina Sgier, Märchen-Erzählerin
«Märchen lösen Bilder aus und erreichen so die meisten Seelen. Sie wecken Gefühle», sagt Christina Sgier. (Foto: Peter Lauth)

«Märchen sind Nahrung für die Seelen»

In Christinas Märlistunden hören in der Regel erwachsene Menschen zu. Sie sagt: «Die meisten Märchen und Mythen sind nicht, wie so oft gedacht, Geschichten für Kinder. Mein Publikum ist sehr verschieden. Ich erzähle immer wieder mal in einem Demenzheim. Diese Menschen verstehen mich intuitiv, so wie es Kinder tun. Sie rufen etwa, ‹das isch e bösi Frau›.» Dann weiss die einfühlsame Märchenerzählerin, wie reagieren. 

Von Christina in die Welt der Märchen entführen liessen sich ebenso Akademiker und hohe Militärs. Christina rollt die Augen, zeigt Erstaunen: «Die waren perplex, sagten, sie hätten gar nicht gewusst, dass es sowas gibt.» Ich schaue Christina fragend an, warte auf eine Erklärung. Sie sagt: «Märchen lösen Bilder aus und erreichen so die meisten Seelen. Sie wecken Gefühle. Oft kommen Menschen danach zu mir, wollen reden. Wollen erzählen, was meine Geschichte ausgelöst hat.» Dann macht sie eine Pause, legt mir die Hand auf den Arm und sagt: «Weisch, Märchen sind Nahrung für die Seele.» 

Märchen sind Mutmacher-Geschichten

Letzthin las ich, kranke Menschen oder Personen in einer endenden Lebensphase hörten gerne zu, wenn jemand Märchen erzählt. Warum sind es gerade die Märchen, die Menschen in ihrem tiefsten Innern berühren?

«Ich erreiche die Leute, weil das Märchen eine Bildersprache ist. Nimm die Sterntaler, es sind die Bilder, die in den Menschen Gefühle wecken. (Über die Sterntaler lese ich in Wikipedia: «Ein armes Waisenmädchen, das ausser einem Stück Brot nichts besitzt, geht in die Welt hinaus. Unterwegs verschenkt es sein Brot, dann seine Mütze, sein Leibchen, sein Röckchen und schliesslich auch sein Hemdchen an andere Bedürftige. Da fallen die Sterne als Silbertaler vom Nachthimmel, und es hat ein neues, feines Leinenhemdchen an, in das es sie aufsammelt. Dadurch ist das einst arme Kind reich bis zum Lebensende.)

«Märchen enden glücklich», sagt Christina. «Im Prinzip sind es Mutmacher-Geschichten nach dem Motto: «Geh deinen Weg, es kommt schon gut.»

Christina Sgier, Märchen-Erzählerin mit Partner Franz von Matt
Christina mit ihrem Franz auf der Couch in Gontenschwil AG. In ihrer noch kurzen gemeinsamen Geschichte spielen Leben und Sterben, Liebe und Trauer, Wanduhren und Märchenbücher eine grosse Rolle. (Archivbild: Peter Lauth)

«Hitsget» die Beutelratte immer noch?

Die Geschichte der Beutelratte macht ebenso Mut. Lesen wir, wie es der fledermausenden Beutelratte mit dem Hitsgi ergeht. 

Eine Fledermaus, die vorüberflog, hörte, wie die Beutelratte schluckte und schluckte. Sie flatterte um die Ratte herum. «Was machst du denn da?» fragte sie. «Willst du dich über mich lustig machen?» «Nein,» sagte die alte Ratte, «ich will mich nicht über dich lustig machen. Ich will mich fledermausen.» «Wir Fledermäuse haben keinen Schwanz», sagte die Fledermaus. Da warf die Ratte ihren Schwanz ab und hielt sich nur noch an den Hinterpfoten fest. «Wir Fledermäuse brauchen keinen Beutel.» Da warf die Beutelratte ihren Beutel fort. «Wir Fledermäuse haben Flügel.» Da dehnte die Beutelratte ihre alte Haut und spannte neue Flügel aus. 

Schluss ganz unten

Uii. Lassen wir der Beutelratte noch etwas Zeit und fragen unsere Märli-Erzählerin, wie sie es denn mit dem Tod hat.

Christina Sgier, Märchen-Erzählerin
«Ich habe viele alte Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet und sehr selten erlebt, dass jemand nicht entspannt in die andere Welt ging», sagt Christina Sgier. (Foto: Peter Lauth)

Beim Pilzle fast zu Tode gestürzt

Was macht der Tod mit dir? 
Für mich ist der Tod ein Mysterium. Zweimal war ich in einer Situation, wo ich dachte: Jetzt sterbe ich. Als 17-Jährige kamen wir auf einem Ruderbötli in der Schiffstrasse auf dem Zürisee dem Raddampfer «Stadt Rapperswil» gefährlich nahe. Ich sprang aus dem Boot und wäre beinahe in die Schiffsschraube geraten.

Das zweite Mal wärest du beim Pilzle fast in den Tod gestürzt …
Ich fiel im freien Fall und dachte, jetzt schtirbsch. Ich hatte ein Riesenglück. (Sie schweigt kurz.) Der Tod kann einem Angst machen. Die Frage, was kommt nachher, kann einschüchtern. Daran denke ich manchmal beim Einschlafen. Der Volksmund sagt ja, der Schlaf sei des Todes kleiner Bruder.

Was macht konkret Angst?
Etwa die Vorstellung, wir haben unser Bewusstsein nicht mehr. (Sie macht eine Pause.) Ich habe viele alte Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet und sehr selten erlebt, dass jemand nicht entspannt in die andere Welt ging.

Es trifft alle. Der Tod holt jeden, holt jede. Hast du Angst vor dem Sterben?
Angst plagt mich keine. Aber, was wäre, wenn ich Schmerzen hätte, wenn ich ganz alleine wäre? (Sie schaut mich an.) Ehrlich, ich weiss es doch erst an der Schwelle, wie es mir geht. Vor vier Jahren durchlitt ich eine deftige Grippe. Ich war sehr krank, alle Gelenke taten weh. Das auszuhalten war schrecklich. Ich dachte, bessert es nicht mehr, möchte ich lieber sterben.

Glaubst du an ein ewiges Leben?
Ich glaube, es geht in irgendeiner Form weiter. Egal wie, etwas bleibt.

Kehren wir wieder?
Ich glaube, dass wir in irgendeiner Bewusstseinsform wiederkehren werden. Was und wie das sein wird … das weiss ich ebenso wenig wie du. Aber ich geniesse meine Tage, so wie du, denn ich weiss, wie kostbar jeder gelebte Tag ist, wenn man im letzten Drittel dieses irdenen Lebens steht.

Christina Sgier, Märchen-Erzählerin und DeinAdieu-Autor Martin Schuppli
DeinAdieu-Autor Martin Schuppli mit Märchenerzählerin Christina Sgier am grossen -Stubentisch. (Foto: Peter Lauth)

Und, fliegt Sie davon, unsere Beutelratte?

Danke für das Gespräch liebe Christina. Noch fehlt das Ende unseres Märchens, das ein alter Indianer einst erzählte. Was macht unsere Beutelratte. So ohne Beutel. Ohne Schwanz, hängend am Baum? Alleingelassen von der Fledermaus.

Die Fledermaus flog davon und sagte zu ihrem Volk: «Denkt euch, was ich gesehen habe, da hinten ist eine Beutelratte, die sich fledermaust. Sie will sich verwandeln, um mit uns zu leben. Lasst sie in Ruhe, dass sie sich verwandeln kann.» Da riefen die Fledermäuse: «Eine Ratte, die sich fledermaust. Los, los, das müssen wir sehen.» Und – schwirr, schwirr, schwirr – flogen sie dorthin und sahen die Beutelratte, die da hing und sich fledermauste.

«Ratte, Ratte, hast du dich bereits verwandelt?» fragten sie. «Ja, verwandelt habe ich mich schon», sagte die Ratte, «und jetzt möchte ich fliegen. Aber ich fürchte mich.» «Fürchte dich nicht», riefen die Fledermäuse. «Wir werden dir helfen. Breite deine Flügel aus, lass dich fallen und du wirst fliegen.» Da spannte die alte Ratte ihre Flügel aus, liess los und segelte davon durch die Nacht. Wir können sie nicht sehen, aber sie sieht uns – sogar im Dunkeln. Sie findet Bananen, mehr als genug, und die süssesten frisst sie.

So hat sich die alte Beutelratte gefledermaust. Diese Geschichte sei in seinem Land geschehen, erzählte ein alter Indianer.

Text: Martin Schuppli, Fotos und Video: Peter Lauth
Das Märchen von der Beutelratte, frei erzählt von Christina Sgier.

Märchenfee Christina Sgier erzählt exklusiv für DeinAdieu
die Geschichte von der Beutelratte, die sich fledermauste.
(Video: Peter Lauth)

Christina Sgier, Märchen-Erzählerin
Dorfsstrasse 1288, 5728 Gontenschwil.

christina.sgier@gmx.ch

Die Geschichte von Christinas Partner Franz von Matt lesen Sie hier

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