Sterben können, heisst Leben lernen

Gehts um Leben und Tod, ist selbstbestimmtes Sterben derzeit ein Thema. Die Autoren Roland Kunz und Heinz Rüegger setzen sich in ihrem Buch damit auseinander. Sie legen dar, wie wir unser Leben gestalten können, wenn es uns gelingt, vermehrt über die letzte Lebensphase nachzudenken und zu reden.

Selbstbestimmt sterben. Ein mächtiger Begriff. Zwei Worte, die zu einer Vielzahl von Interpretationen und Missverständnissen führen können. Beim selbstbestimmten Sterben gehts weder um Suizid noch um ein raschmöglichstes Lebensende. Im Vordergrund steht vielmehr die grösstmögliche Lebensqualität in der letzten Lebensphase. Es geht um die Werte und Präferenzen im Leben und im Sterben und darum, wie sie realisiert werden können.

Dr. med. Roland Kunz und Ethiker Dr. theol. Heinz Rüegger sind erfahren im Umgang mit Leben und Sterben. Roland Kunz ist Facharzt FMH für Allgemeine Innere Medizin, Schwerpunkte Geriatrie und Palliativmedizin. Er war bis Juni 2020 Leiter Departement Akutgeriatrie und Rheumatologie, Chefarzt Universitäre Klinik für Akutgeriatrie und Zentrum für Palliative Care im Stadtspital Waid sowie Triemli – und er amtet bei DeinAdieu als Beirat. Heinz Rüegger ist freischaffender Theologe, Ethiker und Gerontologe sowie freier Mitarbeiter im Institut Neumünster, Zollikerberg. Als Autor hat er bereits einige Bücher über Leben und Sterben geschrieben.

«Über selbstbestimmtes Sterben. Zwischen Freiheit, Verantwortung und Überforderung» heisst das Buch der beiden Autoren. Es erscheint Ende August im Verlag Rüffer&Rub, Zürich. Alois Birbaumer, ebenfalls Arzt und DeinAdieu-Beirat, traf die Autoren zusammen mit Martin Schuppli im Züricher Waidspital zum Interview.

Sterben lernen. Gespräch über das selbstbestimmte Sterben am runden Tisch: Alois Birbaumer, Roland Kunz, Heinz Rüegger und Martin Schuppli (v.l.).
Gespräch über das selbstbestimmte Sterben am runden Tisch: Alois Birbaumer, Roland Kunz, Heinz Rüegger und Martin Schuppli (v.l.).

Endlichkeit ein schwieriges Thema

Herr Kunz, Herr Rüegger: Ein Buch über das Sterben zu schreiben ist für euch naheliegend. Wen wollt ihr damit erreichen?

Roland Kunz: Wir möchten ein breites Publikum erreichen und es für das Thema sensibilisieren. Einen grossen Informationsbedarf sehe ich bei Berufskolleginnen, Berufskollegen. Über die Endlichkeit unseres Lebens zu reden, ist ein schwieriges Thema.

Heinz Rüegger: Das Buch richtet sich an alle, die bereit sind sich zu reflektieren, die bereit sind, über das Sterben nachzudenken.

DeinAdieu: Ist der Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben heute grösser denn einst? Ist das selbstbestimmte Sterben gar Plicht geworden?

Heinz Rüegger: Lange Zeit glichen die Rufe nach dem selbstbestimmten Sterben eigentlichen Kampfparolen gegen das moderne Gesundheitswesen.

DeinAdieu: Ein Gesundheitswesen, das anscheinend nur Lebensverlängerung kennt.

Heinz Rüegger: Heute ist selbstbestimmtes Sterben ein zentrales Thema, weil wir in der Mehrheit der Fälle selber entscheiden müssen, wie wir sterben wollen. Wir müssen festlegen, was wir unternehmen, um noch nicht sterben zu müssen oder um das Sterben bewusst zuzulassen.

Sterben lernen. Heinz Rüegger, Gerontologe und Ethiker
Heinz Rüegger, Gerontologe und Ethiker: «Ist der Tod mein Lebenshorizont, gibt das einen anderen Blick auf das jetzige Leben. Die Gegenwart wird wichtiger.» (Foto: Paolo Foschini)

Selbstbestimmtes Sterben heisst nicht Suizid

DeinAdieu: Die meisten möchten sich abends ins Bett legen und nicht mehr aufwachen.

Heinz Rüegger: Ob jemand Lust hat und sich auseinandersetzen will mit dem Sterben-Lernen oder ob er keine Lust hat, das ist jedem freigestellt.

DeinAdieu: Gewisse wissenschaftliche Stimmen sagen, selbstbestimmtes Sterben sei ein neuer Zwang.

Heinz Rüegger: Sie sagen, die Rede vom selbstbestimmten Sterben würde Druck aufsetzen, eigentlich muss doch jeder so sterben dürfen, wie er will. Selbstbestimmt.

Roland Kunz: Der Leistungsdruck entsteht einerseits durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen und andererseits durch die grenzenlose Verfügbarkeit der Medizin. Die Leute meinen, ich muss den Zeitpunkt festlegen. Sie müssen nicht. Selbstbestimmtes Sterben ist kein Suizid, im Gegenteil. Ich lasse das Sterben zu. Gehe dem Tod gelassen entgegen.

DeinAdieu: Im Buch lese ich zum Thema Vorbereitung, wir sollen den Tod als Lebenshorizont akzeptieren.

Heinz Rüegger: Niemand muss sich vorbereiten. Aber es entspricht einer gewissen Lebensklugheit, es zu tun. Ist der Tod mein Lebenshorizont, gibt das einen anderen Blick auf das jetzige Leben. Die Gegenwart wird wichtiger, weil das Leben ja morgen fertig sein könnte.

Roland Kunz: Dazu gibts eine wichtige Übung: Ich kann vom fiktiven Lebensende zurückschauen und mich fragen, was war mir wichtig im Leben? Dann wird plötzlich anderes ganz neu gewichtet. Das gelingt einem im Bewusstsein, das Leben könnte morgen fertig sein. Dann vertieft sich das jetzige Leben. Begrenzte Güter haben einen höheren Wert, mein Leben ist umso kostbarer. Also gilt es, lustvoll etwas damit machen.

Heinz Rüegger: Carpe diem, nutze den Tag, ist die Rückseite von Memento Mori, gedenke des Todes. Die einen möchten darüber reden, andere nicht. Entscheidend sind oft kulturelle Hintergründe.

Roland Kunz: Menschen, die immer gesund waren, tun sich schwerer mit dem Ende. Wer einmal schwer krank war, schätzt die Gesundheit und kann bewusster leben.

Alois Birbaumer: Genau. Er geniesst die Gesundheit, ist sich bewusst, das ist nicht immer so. Hat erfahren, es kann genauso gut anders sein und hat demzufolge schon ein mögliches Ende gesehen.

Heinz Rüegger: Andernfalls wird jemand vom Leben genötigt, sich mit dem Sterbeprozess auseinanderzusetzen. Die berühmte US-Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross war der Meinung, man müsse Stufen durchlaufen. Dann öffne der Sterbeprozess Türen zu Lebenseinsichten. Wir würden allerdings nicht von Stufen sprechen, die alle Sterbenden durchlaufen müssen. Das wäre zu schematisch, zu gesetzlich; das würde den Sterbeprozess normieren und unter einen neuen Zwang setzen.

Alois Birbaumer: Die Corona-Pandemie hat bei den Menschen bestimmt etwas ausgelöst, viele gerieten in eine Art Panik, wollten nicht über den Tod reden. Sie waren überfordert, da sie in der kurzen Zeit kein Konzept ihres eigenen Sterbens gestalten konnten.

Heinz Rüegger: Sterben ist oft verbunden mit grossen Ambivalenzen, Unentschlossenheit. Patienten sind hin- und hergerissen. Sie möchten zwar rasch gehen, aber vorher noch das ganze Rösslispiel lebensverlängernder Therapien in Anspruch nehmen.

Alois Birbaumer: Selbstbestimmtes Sterben ist ein Prozess mit vielen sozialen Gesprächen. Es heisst, darüber nachdenken, was möchte ich. Offen darüber reden, sich nicht fürchten vor dem Thema.

Sterben lernen: Palliativmediziner Roland Kunz
Palliativmediziner Roland Kunz: «Kranke und ihre Angehörigen sollten Fragen stellen. Etwa: Was passiert, was kann passieren, wenn wir was machen, wenn wir was nicht machen.» (Foto: Paolo Foschini)

Mit Herzoperation einfachen Tod verhindern

DeinAdieu: Für Angehörige gilt: den Wunsch des Kranken aushalten.

Roland Kunz: Genau. Eine kleine Geschichte: Ich erlebte einen Patienten, 87 Jahre alt. Bei ihm verschlechterte sich alles. Obwohl er einen Darmverschluss entwickelte, wollte der Mann keine OP. Erst sagte er: Ich will gehen. Später entschied er auf weiterleben. Der Sohn hatte nach dem ersten Entscheid die Familie ans vermeintliche Sterbebett bestellt. Und jetzt wollte der Vater nicht Abschied nehmen, sondern weiterleben. Da wurde ihnen allen bewusst, sie hatten nie über Vorstellungen zum Sterben geredet.

Heinz Rüegger: Darüber reden heisst, auf gute Art Informationen erhalten. Wir wissen nicht mehr, wie Sterben geschieht. Wird jemand palliativ betreut, kann er, kann sie, sich auf das Sterben vorbereiten.

DeinAdieu: Ärzte vermitteln nicht oder selten, was es für unterschiedliche Möglichkeiten gibt, eine schwere Erkrankung zu meistern.

Roland Kunz: Nehmen wir eine Herzoperation. Sie kann den plötzlichen Herztod verhindern und nimmt einem so gleichzeitig die Möglichkeit eines einfachen Todes. Nur erfährt das kaum ein Patient.

Heinz Rüegger: Wir müssen eine neue Kultur schaffen im Umgang mit verschiedenen Möglichkeiten des Sterbens. Gewisse Krankheitsbilder, etwa eine Lungenentzündung, sind ein guter Weg aus dem Leben zu scheiden.

Alois Birbaumer: Ärzte sollten versuchen, gut zu erklären, wie der weitere Verlauf aussehen könnte. Sollten sagen, was Sache ist.

Roland Kunz: In der Regel sagt ein Operateur, was alles möglich ist. Fertig. Seine Devise: Leben erhalten.

Alois Birbaumer: Das heisst, Hoffnung machen auf Lebenserhaltung und von einer möglichen Verschlechterung oder vom Sterben nicht sprechen.

Roland Kunz: Kranke und ihre Angehörigen sollten Fragen stellen. Etwa: Was passiert, was kann passieren, wenn wir was machen, wenn wir was nicht machen. Studenten, Studentinnen, die meine Palliative-Care-Vorlesungen an der Uni und an der ETH besuchen, merken, dieses Thema kommt im Studium zu kurz. Sie haben noch nie was über Sterben und Tod gelernt. Deshalb kommen sie auf die Palliativ-Station und wollen mit den Leuten reden. Und merken dann, wie ausgeprägt tabu dieses Thema ist.

Alois Birbaumer: Patienten kennen solche Diskussionen nicht, sind nicht darauf vorbereitet oder ganz einfach überfordert mit solchen Gesprächen.

Palliativmediziner Roland Kunz
Roland Kunz: «Warum muss ein alter Mensch, der nur noch sein will, aktiviert werden?» (Foto: Paolo Foschini)

Mit der Vergänglichkeit leben

DeinAdieu: Weiter lese ich in eurem Buch, wir können mit Lebenskrisen, mit Grenzsituationen umgehen lernen.

Roland Kunz: Das heisst, mit der Vergänglichkeit leben können. Das machen wir unbewusst. Denn jedes Mal, wenns dunkel wird, wenn wir einschlafen, wissen wir nicht, ob wir wieder aufwachen.

Heinz Rüegger: Wir können im Leben lernen – nicht als Gegensatz zur Selbstbestimmung –, Dinge, Ereignisse auf uns zukommen zu lassen. Können eine innere Haltung entwickeln und uns auf das Ereignis einlassen. Der Puck wird mir zugespielt, und ich kann umgehen lernen mit solch einem Zumutungs-Puck.

Alois Birbaumer: Die Art, wie Menschen das Lebensende gestalten, hat mit ihrer Biografie zu tun. Damit, wie sie mit Lebenserfahrungen umgehen. Niemand sollte ängstlich festhalten, was er, was sie hat.

Heinz Rüegger: Genau. Menschen lassen im günstigsten Fall etwas auf sich zukommen und trauen sich, damit umzugehen. Nehmen wir den Philosophen Carl Jaspers. Er war ständig krank und sagte: Grenzsituationen zeichnen sich dadurch aus, dass man die Lösung nicht zum vornherein kennt. So lasse ich mich drauf ein, schaue wohin das führt. Ich traue mir zu, meinen Weg zu finden.

Roland Kunz: Sie nehmen den Puck auf und spielen damit. Andere reagieren mit Schuldzuweisungen, erleben keine Reifung, schauen nur rückwärts, manchmal mit viel Selbstmitleid und Anklage. Sie sind also unfähig, selbstreflektierend mit diesen Grenzsituationen umzugehen.

Heinz Rüegger: Mit unserem Buch versuchen wir, Leserinnen und Leser gluschtig zu machen, selbstbestimmt zu handeln. Denn, wer sich treiben lässt, handelt – nach unserer Meinung – nicht autonom.

Heinz Rüegger, Gerontologe und Ethiker
Heinz Rüegger: «Ist es nicht eine Beleidigung, einer 94-jährigen kranken Frau zu sagen: Wir brauchen dich?» (Foto: Paolo Foschini)

Das Gewicht vom Haben aufs Sein verlagern

Dein Adieu: In eurem Buch fand ich folgenden Text von Erich Fromm:

»Die Angst vor dem Tod und dem Sterben ist eigentlich nicht das, als was sie erscheint: Angst, nicht weiterzuleben. […] Man hat nicht vor dem Sterben Angst, sondern davor, zu verlieren, was ich habe, meinen Körper, mein Ego, meine Besitztümer und meine Identität […]

Ihr schreibt, wir müssten also das Gewicht vom Haben auf das Sein verlagern.

Heinz Rüegger: Sein kann heissen, einfach auf der Veranda sitzen und nichts tun. Keine Wanderung unternehmen, keine Umbaupläne wälzen, einfach nur dasitzen, rausschauen und nichts tun. Viele denken, das bringe nichts.

Roland Kunz. Warum muss ein alter Mensch, der nur noch sein will, aktiviert werden. Warum soll er das nicht dürfen?

Heinz Rüegger: Der berühmte Berner Pfarrer und Autor Kurt Marti sagte klipp und klar: «Ich lasse mich nicht mehr aktivieren.» Recht hat er. Im Alter darf man passiv sein.

DeinAdieu: Loslassen lernen, heisst also Leben lernen, heisst also Sterben können.

Roland Kunz: Loslassen tut not. Etwa von der Leistungsfähigkeit. Ein 60-Jähriger, der jedes Mal schneller werden will im Ski-Marathon, tut sich keinen Gefallen.

Heinz Rüegger: Männer leben in ständigem Wettbewerb. Jeder will ein Crack sein. Wird er krank und kann das sich auferlegte Pensum nicht mehr erfüllen, löst das bei «klassischen» Männern manchmal Panik aus. Plötzlich kann jemand nicht mehr seine Rolle spielen. Gut ist, wir lernen, ich muss nicht mehr überall dabei sein. Andere dürfen meinen Platz einnehmen.

Roland Kunz: Loslassen kann man lernen. Kann sich überlegen, was passiert, wenn ich ein anvisiertes Ziel nicht schaffe. Man kann sich sagen, das soll mir nicht passieren, vorher gebe ich etwas ab oder visiere nur noch kleinere Ziele an.

Heinz Rüegger: Ich erlebe, wie sich Angehörige schwertun, wenn jemand im Pflegeheim stirbt. Sie sagen, wenn Mutter nichts mehr essen will, «jä nei!», sie muss doch Essen bekommen. Wir sollten positiv aufs Loslassen-Wollen eingehen. Sollten nachfragen, warum ist dir das wichtig? Stattdessen heissts: Wir brauchen dich ja noch. Da frage ich, wofür denn?

Roland Kunz: Ein wichtiger Aspekt. Es sind nicht nur Ärzte, Ärztinnen sondern ebenso Angehörige, die den Wunsch eines selbstbestimmten Sterbens nicht respektieren. Möglicherweise ist da die Angst, jetzt sind wir die Nächsten. Alois Birbaumer: Ist die Mutter noch da, wirkt sie, die Älteste, wie eine Art Schutzschild gegenüber dem Tod. Und so schiebe ich die Wertschätzung der Mutter, ihren Stellenwert für mich in den Vordergrund.

Heinz Rüegger: Ist es nicht eine Beleidigung, einer 94-jährigen kranken Frau zu sagen: Wir brauchen dich? Gehts nicht eher darum, wenn ich meine Mutter vom Sterben wegbringe, muss ich mit ihr nicht darüber reden?

Palliativmediziner Roland Kunz
Roland Kunz: «Das innerlich wache Teilnehmen an Begräbnisfeiern kann helfen, sich mit der Realität des Todes vertrauter zu machen.» (Foto: Paolo Foschini)

Lernen im Unfertigen einen Sinn zu entdecken

DeinAdieu: Ihr schreibt, wir sollten fähig werden, uns mit Unvollendetem zu versöhnen. Müssten im Unfertigen einen Sinn entdecken.

Roland Kunz: Es ist als eine Art Warnung an überengagierte Leute zu verstehen. An Menschen, die alles in Harmonie und Frieden geregelt haben wollen. Mit Nachbarn, der Familie soll alles besprochen, soll alles im Reinen sein. Das muss nicht sein.

Heinz Rüegger: Man darf verkracht sein mit der Mutter, der Tochter.

Roland Kunz: Sie kann also sterben, bevor alles bereinigt, bevor der Streit geschlichtet ist.

DeinAdieu: Mit Sterben und Tod können wir uns bewusst konfrontieren.

Roland Kunz: Das geschieht etwa durch bewusstes Begleiten von Leidenden und Sterbenden aus dem eigenen Freundeskreis, durch Spital- oder Heimbesuche. Ebenso kann das innerlich wache Teilnehmen an Begräbnisfeiern helfen, sich mit der Realität des Todes vertrauter zu machen.

Heinz Rüegger: Wohl deshalb haben freiwillige Jobs eine hohe Akzeptanz. Gewisse Leute wollen Hospizarbeit machen, denn es bringt ihnen etwas für ihr Leben – und damit für ihr Sterben.

Roland Kunz: Viele Freiwillige hatten ein Sterbe-Erlebnis in der Familie als Ausgangspunkt. Zudem können wir reden lernen, mit Leuten reden, die Grenzsituationen erfahren. Wir können Trauernde besuchen, können uns der Situation stellen, können so Angst abbauen.

DeinAdieu: Wir können ebenso Regelungen treffen, unser «letztes Büro» organisieren.

Roland Kunz: Stimmt. Aber der schriftliche Teil soll nicht der Anfang sein. Bei den meisten ist damit das Thema Endlichkeit erledigt. Das «letzte Büro» müsste der Schlusspunkt sein in der Auseinandersetzung mit der letzten Lebensphase. Es ist doch schön, wenn ich mit warmen Händen verschenke.

Heinz Rüegger, Gerontologe und Ethiker
Heinz Rüegger, Theologe: «Religion und Medizin haben bei uns im Abendland ein negatives Todesverständnis. Beide betrachten den Tod als Erzfeind.» (Foto: Paolo Foschini)

Der Glaube kann eine Stütze sein

DeinAdieu: Erleichtern Spiritualität und Religion den Zugang zum Sterben, zum Loslassen des Lebens?

Heinz Rüegger: Das muss nicht, kann aber sein.

Roland Kunz: Hatte jemand ein Leben lang wenig mit Glauben am Hut, wirds selten zum Thema am Sterbebett. Der Glaube kann eine Stütze sein, eine Hilfe. Die Religion kann aber auch belasten. Als ich die Villa Sonnenberg in Affoltern am Albis leitete, betreuten wir einige Patientinnen, Patienten aus der katholischen Innerschweiz: Viele hatten grosse Ängste vor Fegefeuer und Hölle. Hier in Zürich erlebe ich das seltener.

Heinz Rüegger: Religion und Medizin haben bei uns im Abendland ein negatives Todesverständnis. Beide betrachten den Tod als Erzfeind.

DeinAdieu: Meine Herren, wie habt Ihr es mit dem Sterben? Habt Ihr das Sterben gelernt?

Heinz Rüegger: Ich bin fest dran. Mit 45 Jahren erlebte ich eine schwere Lungenentzündung, lag auf der Überwachungsstation und musste mich erden. Musste die Unterseite des Lebens kennen lernen. Mir wurde klar: Der Tod musste ein zentrales Thema werden. Seither versuche ich das zu lernen. Es lohnt sich.

Roland Kunz: Der Tod gehörte immer dazu, er ist das Defizit in der Medizin. Je näher der Mensch dem Tod ist, umso nackter wird er. Da zählt nur der Einzelne. Beim Sterben helfen keine irdischen Titel oder Honorierungen. Jeder muss sich damit auseinandersetzen. Ich erlebte einst einen schweren Autounfall. Der löste eine Art Gelassenheit aus. Ich hatte ein Superleben, dachte ich damals, ich hätte auch gehen können.

Sterben lernen: Alois Birbaumer
^Alois Birbaumer: «Selbstbestimmtes Sterben ist ein Prozess mit vielen sozialen Gesprächen. Es heisst, darüber nachdenken, was möchte ich». (Foto: Paolo Foschini)

Nahtoderlebnis unter dem eigenen Ross

Alois Birbaumer: Und ich lag schwerverletzt unter einem Pferd. Damals dachte ich, ein rüüdig schönes Leben hatte ich. Lieber liege ich unter meinem Ross als in einem zerquetschten Auto. Ich habe das Sterben am eigenen Leib erfahren. Zurückgekommen fühlte ich mich wie neugeboren. Dieses Ereignis mit Bewusstseinsverlust konfrontierte mich mit der reellen Möglichkeit, zu sterben. Seit diesem Moment hat die Endlichkeit eine Bedeutung in meine Leben.

Interview Martin Schuppli. Fotos: Paolo Foschini

Das Buch «Über selbstbestimmtes Sterben. Zwischen Freiheit, Verantwortung und Überforderung» von Heinz Rüegger erscheint Ende August im Verlag Rüffer und Rub, Zürich. Hier können Sie es direkt bestellen.

Wir müssen uns mit der Endlichkeit konfrontieren

Von Dr. med. Alois Birbaumer, Luzern

Ist die Endlichkeit ein, wie sie von vielen Philosophen beschrieben wird, Trost? Oder möchten wir ein ewiges Leben?

Im neuen Kriminalroman von Christine Brand «Die Patientin» lese ich im Interview von Milla Nova mit Frau Albright, einer Forscherin.

«Frau Nova: Möchten Sie sterben?»
«Nein. Oder auf jeden Fall nicht zu bald.»
«Eben. Keiner will sterben. Ich will auch nicht sterben. Daher ist es nur logisch, dass ich mich mit der Frage beschäftige, wie man den Tod aus dem Leben verbannen kann. Ich will das Sterben eliminieren. Der Tod ist ein Arschloch. Niemand hat ihn verdient.»

Christine Brand «Die Patientin»

Und doch müssen wir uns mit der Endlichkeit konfrontieren. Keine Medizin, kein noch so ausgeklügeltes Forschungsprojekt kann den Tod verhindern. Wir können uns mit unserem endlichen Dasein sehr unterschiedlich auseinandersetzen. Verdrängen. Nicht akzeptieren. Reflektieren. Von der Natur lernen. Die Realität wahrnehmen. Eines ist sicher: Wer sich mit dem Tod beschäftigt, versucht das Leben zu optimieren. Ars vivendi, Lebenskunst.

Die Philosophie als Wegweiser

Das Journal für Philosophie «der blaue reiter» beschäftigt sich in einer Ausgabe mit «Der Trost der Endlichkeit». Die knapp 100 Seiten führen uns in einer Tour d’horizon durch das Leben – die Endlichkeit – den Tod – das unbekannte Danach.

Mit der Geburt starten wir eine unbekannte Reise ins Leben mit vielen kreativen, überraschenden, doch durchaus selbstbestimmenden Abläufen. Jeder Beginn hat ein Ende. Unausweichlich. Tod in der Natur, Pflanzen wie Tiere sind dem unterworfen. Tod von lieben Mitmenschen, Verwandten, Eltern. Oder eigene Vorkommnisse im Leben, die mit dem Tod hätten enden können.

Jeder kann sich sein eigenes Modell entwerfen. Dabei bietet die Philosophie viele Ansätze, unzählige Denkmodelle.

Nach Epikur (341–270 v.Chr.) müssen wir den Tod nicht fürchten. Solange wir sind, ist der Tod nicht da. Und wenn der Tod da ist, sind wir nicht.

Michel de Montaigne (1533–1592) hält sich in seinen Essays an die philosophische Tradition der Antike «Philosophieren heisst, Sterben lernen». Seine Essays hat er immer wieder abgeändert. Am Schluss schreibt er, dass das Wissen um unsere Endlichkeit keine Last sein darf. Sie darf uns nicht in existenzielle Ängste bringen. Wir sollen uns das Leben unseren eigenen Ressourcen anpassen und geniessen.

Anders ist es bei Martin Heidegger (1889–1976). Für ihn ist unser ganzes Leben ein «Vorlaufen in den Tod». Elias Canetti (1905–1994) hingegen erklärt sich als Feind des Todes. Seine Biographie kann einige seiner Rückschlüsse erklären. «Wer könnte dann noch aufs Morden verfallen, wenn nichts mehr umzubringen wäre.»

Eine andere Art, den Tod zu akzeptieren, finden wir in der Antike, ebenfalls in der theologisch-philosophischen Literatur des Mittelalters. Die menschliche Seele überlebt den Körper und ist somit nicht der Endlichkeit unterworfen. Jean-Paul Sartre (1905–1980) widerspricht dieser Theorie. Ein sinnvolles Leben kann seiner Meinung nach nicht durch ein zu erwartendes Jenseits gestaltet werden. Interessant sind auch die verschiedenen philosophischen Essays über die Endlichkeit von Odo Marquard (1928–2015). «Endliches zeigt sich als das Menschliche nicht dadurch, dass es aufhört das Endliche zu sein, sondern dadurch, dass bekräftigt wird, dass es das Endliche ist. Endliches wird humoristisch nicht durch Unendliches, sondern durch anderes Endliches distanziert, in dem man – sozusagen – die Endlichkeit auf die Schultern möglichst vieler Phänomene verteilt: geteilte Endlichkeit ist lebbare Endlichkeit.»

Konkretes Vorgehen

Sterben lernen heisst also, den Tod, die eigene Vergänglichkeit als ein irgendeinmal sicheres Faktum in sein Leben zu integrieren. Ich werde während meines Lebens nie alles erleben, ausleben können, worauf ich Lust habe. Das Leben ist zeitlich limitiert, folglich sind ebenso meinen Aktivitäten Grenzen gesetzt. Wichtig ist, die möglichen Tätigkeiten zu geniessen, selbst wenn es nur wenige sind. Mit dieser Lebensart kann ich auf meinem Sterbebett auf ein gutes und glückliches Leben zurückschauen. Für das Erlebte dankbar sein. Joie de vivre – Lebensfreude.