«Wir lernen im Dialog zu sein – auch mit schwerbehinderten Menschen»

Seit neun Jahren leitet Andreas Dürst die Stiftung Wagerenhof, umgangssprachlich «Wagi» genannt. Das Heim in Uster bietet 250 Menschen mit teils mehrfach schweren Beeinträchtigungen ein Zuhause – bis zum Lebensende. Um Therapie- und Freizeitangebote für Menschen mit mehrfach schweren Behinderungen zu ermöglichen, ist die Stiftung auf Spendengelder und Legate angewiesen.

Was macht den Wagerenhof so einzigartig und unterscheidet die Stiftung von anderen Betreuungsheimen für Menschen mit Beeinträchtigungen?

Der Wagerenhof ist spezialisiert auf die Betreuung von Menschen, die mehrfach schwer beeinträchtigt sind – geistig und körperlich. Seit der Reorganisation vor einem Jahr gibt es im Wagerenhof zudem Wohngemeinschaften, die unter anderem speziell für Menschen mit Seh- oder Hörbeeinträchtigungen oder Menschen mit Autismus eingerichtet sind.

Unser Versprechen lautet, dass wir den Menschen lebenslang ein Zuhause bieten. So haben einige Bewohner:innen über 80 Jahre im Wagerenhof und damit fast ihr ganzes Leben hier verbracht. Ein interner Pflegedienst, ein Ärzteteam und eine eigene Apotheke sorgen dafür, dass wir unser Versprechen auch einlösen können.

Der Claim vom Wagerenhof lautet «Was zählt, bist du». Wie setzen Sie diese Botschaft im Alltag um? Wie misst man die individuelle Lebensqualität?

Der Wagerenhof orientiert sich am Lebensqualitätsmodell von Professorin Monika Seifert. Dieses Modell schätzt mit acht Kerndimensionen, wie zum Beispiel physisches Wohlergehen oder Selbstbestimmung, alle Aspekte der Lebensqualität ein. Um die persönliche Zufriedenheit von Menschen zu ermitteln, von denen die meisten über keine eigene verbale Sprache verfügen und um deren Bedürfnisse zu verstehen, beziehen wir alle Bezugspersonen wie beispielsweise aus der Pflege, der Physiotherapie oder der Agogik ein. An unseren «Lebensqualitäts-Meetings» tauschen wir uns dann regelmässig aus. Je besser wir verstehen, wie die Bewohner:innen kommunizieren, desto besser können wir ihren Bedarf abdecken und umso wohler fühlen sie sich im Wagerenhof. Wir lernen, mit ihnen im Dialog zu sein, auch mit schwerbehinderten Menschen – dabei hilft uns zum Beispiel eine videobasierte Methode, um die Körpersprache zu analysieren. Oft sind es subtile Hinweise wie ein kurzer Blick, mit dem uns die Bewohner:innen ihre Bedürfnisse mitteilen.

Ihnen liegt der Austausch zwischen Menschen mit und ohne Behinderung am Herzen. Wie fördert der Wagerenhof diesen Austausch?

Der Wagerenhof ist eine offene Institution, alle sind willkommen. Das Schöne ist, dass bei uns sehr schnell persönliche Begegnungen entstehen. Ich wünsche mir, dass noch mehr Menschen den Wagerenhof kennenlernen und unterstützen, damit Hürden gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen abgebaut werden. Das offene und vorbehaltlose Verhalten von Menschen mit Beeinträchtigungen kann uns sogenannt normalen Menschen auch als Vorbild dienen.

Der Wagerenhof ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen Sozialraum in Uster geworden: Mit Bauernhof, Gärtnerei und Wäscherei unterstützen wir die Bewohner:innen, selbstständiger zu leben. Der Wagerenhof ist in den 118 Jahren seines Bestehens wie zu einem Quartier von Uster herangewachsen und hat einen «Dörflicharakter» angenommen. Täglich kommen rund 1000 Personen in diesem Quartier zusammen: Mitarbeitende, Bewohner:innen und Passant:innen. Im Hofladen, der Gärtnerei und der Wäscherei verkaufen wir unsere Produkte und fördern den Austausch zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Auch unser Restaurant ist öffentlich, und wir empfangen viele Einwohner:innen von Uster als Gäste.

Der Wagerenhof ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen Sozialraum in Uster geworden.

Die Stiftung Wagerenhof wird zur Hälfte von kantonalen Unterstützungsgeldern finanziert, zur anderen Hälfte von der IV-Rente der Bewohner:innen sowie der Krankenkasse. Wofür benötigt der Wagerenhof Spendengelder und Legate?

Die Spendengelder, Legate und Einnahmen aus Erbschaften haben für uns eine enorme Bedeutung – gewisse Angebote könnten wir uns ohne diese Unterstützung gar nicht leisten. Wir setzen die Gelder für Therapie- und Freizeitangebote für Menschen mit schwersten Behinderungen ein. Diese Menschen stehen oft weniger im Fokus der Öffentlichkeit, und es gibt fast keine Therapie- oder Freizeitangebote, die auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet sind. Mit Spendengeldern können wir die Qualität unserer Therapien fördern, zum Beispiel Klang- und Aromatherapie oder Therapien im Heilbad anbieten. Diese Therapieformen sind sehr wichtig, damit sich Menschen mit schwersten Behinderungen in ihrem Körper wohlfühlen. Auch die Möglichkeit, während einer Therapie den Rollstuhl zu verlassen, ist unvorstellbar wertvoll: Gefangen im Rollstuhl, kann es sehr wohltuend sein, für einmal im warmen Wasser des Heilbads die Schwerelosigkeit zu spüren oder in einem weichen Sitzsack Platz zu nehmen. Auch um Freizeitaktivitäten für Menschen mit schweren Behinderungen durchzuführen, brauchen wir Spendengelder. Momentan entsteht im Wagerenhof ein Gemeinschaftsraum, wo wir Geschichten erzählen, musizieren sowie Spielenachmittage und Feste organisieren werden.

Wir setzen Spendengelder auch ein, um die Kommunikation zu erleichtern: 85 Prozent unserer Bewohner:innen können nicht sprechen und 15 Prozent haben Schwierigkeiten beim Ausdruck; wir können nicht verstehen, was sie uns mitteilen möchten. Die nonverbale Kommunikation ist also zentral. Schwerbehinderte Menschen kommunizieren mit ihrer Iris über einen Sprachcomputer – sogar Witze liest der Computer vor. Diese unterstützte Kommunikation ist sehr teuer. Für jemanden, der dank dieses Sprachcomputers kommunizieren kann, ist diese Möglichkeit unbezahlbar. Ein Bewohner hat kürzlich einen Vortrag darüber gehalten, wie wichtig für ihn dieser Sprachcomputer ist. Dank des Computers kann der Bewohner zum Beispiel in der Küche mithelfen und mit dem Team kommunizieren.

Einnahmen aus Erbschaften und Legaten nutzen wir zudem, um in unsere Infrastruktur zu investieren. Im Januar 2021 ist auf der Strahlegg ein neuer Wagerenhof-Standort entstanden: Wir haben einen Landwirtschaftsbetrieb gekauft und umgebaut – dies war nur durch die Unterstützung eines grosszügigen Spenders möglich. So konnten wir für Menschen mit einem erhöhtem Strukturbedarf – beispielsweise aufgrund einer Autismus-Spektrum-Störung – ein Wohnhaus in einer ruhigen Umgebung schaffen.

Seit neun Jahren leitet Andreas Dürst die Stiftung Wagerenhof, zuvor war er lange in der IT- und Telekommunikationsbranche tätig.

Welche Menschen berücksichtigen den Wagerenhof in ihrem Testament und vermachen Ihrer Institution eine Erbschaft?

Neben Angehörigen und Familien der Bewohner:innen des Wagerenhof sind es in erster Linie Menschen, die einen persönlichen Bezug zum Wagerenhof haben. Die Bereitschaft zu spenden und damit etwas Bleibendes zu erschaffen, steigt mit dem persönlichen Kontakt – dies zeigt auch, wie wichtig die Begegnungen sind. Jede:r kann uns besuchen – auch «inkognito». Gewisse Spender:innen kommen regelmässig vorbei und spenden einen kleineren Betrag ins Kässeli. Eine Person spendete zum Beispiel regelmässig 5 Franken und hinterliess uns bei ihrem Tod völlig überraschend einen grossen Geldbetrag.

Bevor Sie vor neun Jahren die Geschäftsleitung des Wagerenhofs übernommen haben, waren Sie in der IT- und Telekommunikationsbranche in der Privatwirtschaft tätig. Wie haben Sie Ihren Jobwechsel erlebt?

Früher war ich tatsächlich ein Karriereturbo, jetzt bin ich Heimleiter. Ich war viele Jahre Präsident der Stiftung züriwerk, die ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen fördert. Nachdem ich auf der ganzen Welt gearbeitet hatte und oft unterwegs war, entschied ich mich für einen Job in Zürich, auch im Sinne meiner Familie (schmunzelt). Am meisten beeindruckt haben mich zu Beginn meiner Arbeit im Wagerenhof die motivierten und engagierten Mitarbeitenden. Ich schätze die sinnstiftende Arbeit in diesem lebendigen und komplexen Betrieb. Immer mehr Menschen werten die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit höher als das gesellschaftliche Ansehen. So arbeitet im Wagerenhof zum Beispiel ein Fünf-Sterne-Koch, der früher in einem prestigeträchtigen Hotel als Chef in der Küche stand. Oft wechseln auch Pflegefachleute zu uns, weil sie etwas bewirken wollen – und dafür sogar einen tieferen Lohn in Kauf nehmen.

Andi Antener (Bild: Stiftung Wagerenhof)

Interview mit Andi Antener, Bewohner im Wagerenhof

Andi Antener ist schwerst beeinträchtigt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Es ist ihm nicht möglich, sich mit Worten zu verständigen. Um aus erster Hand zu erfahren, wie es Andi im Wagerenhof ergeht, half seine Bezugsperson Patrick Schreiter, einen Dialog mit Andi aufzunehmen.

Interview begleitet und übersetzt von Teamleiter Patrick Schreiter

Was macht dein Leben im Wagerenhof aus?

Weil meine Tast- und Bewegungssinne verringert sind, kann ich meinen eigenen Körper nicht erfassen. Patrick, meine Bezugsperson, hält deshalb meine Hand. Die Berührungen fühlen sich gut und beruhigend an. Ich spüre, dass es bei diesem Gespräch um mich geht. Ich bin dieses Jahr 50 Jahre alt geworden. Alle Fach- und Bezugspersonen des Wagerenhof kümmern sich gut um mich und sorgen sich um meine Lebensqualität. Regelmässig treffen sie sich und schätzen meine Lebensbedingungen sowie meine persönliche Zufriedenheit ein. Ich muss lachen bei diesem Gespräch, denn ich fühle mich sehr gut!

Wie wirst du im Alltag unterstützt?

Ich leide mit meiner schwersten Beeinträchtigung unter Wahrnehmungsstörungen. Ich kann Ereignisse nicht richtig einschätzen. Basale Angebote sind deshalb ein Segen für mich. Dank verschiedenen Therapie- und Freizeitangeboten erlebe ich eine hohe Lebensqualität. Gewisse Angebote kann sich der Wagerenhof jedoch nicht leisten. Ich bin deshalb auf Spendengelder und Freiwilligenarbeit angewiesen.
Mein Einzelzimmer ist hell und freundlich eingerichtet. Weil ich immer mit dem Rollstuhl unterwegs bin, schätze ich die Grösse meines Zimmers. Ich kann meinen Rollstuhl gut darin wenden, ohne dass ich überall anecke. Die Einstiegshilfe ins Bett nimmt zusätzlichen Platz im Zimmer ein. Trotzdem ist es nicht eng in meinem Raum und ich kann hier gut meinen Besuch empfangen.

Wodurch kannst du dich selbstständiger bewegen?

Mein Leben lang bin ich auf die Professionalität und das Wohlwollen von geschulten Fach- und Bezugspersonen angewiesen. Ich freue mich deshalb besonders, wenn sich jemand die Zeit nimmt, um mit mir auf einen Spaziergang an der frischen Luft zu gehen. Ich kann nur ein einziges Wort aussprechen – das Wort Ja. Dieses Wort sage ich jeweils laut und deutlich. Vor allem im richtigen Moment, wie zum Beispiel jetzt, wenn ich spüre, dass sich Patrick für mich speziell einsetzt. Natürlich verfügt der Wagerenhof nicht immer über genügend Ressourcen, um auf all meine Wünsche eingehen zu können. Besonders gut geht es mir, wenn ich Menschen treffe. Das diesjährige Musik-Festival war eine grosse Freude für mich, weil ich nach den Pandemiejahren endlich wieder mal viele Leute treffen konnte.

Was ist dir wichtig im Wagerenhof, und was wünschst du dir noch?

Die basale Erlebniswelt trägt dazu bei, meine Lebensqualität zu optimieren. Meine Bezugsperson Patrick steckt voller Ideen, wenn es um die Umsetzung von solchen Erlebniswelten geht. Im Wohnzimmer haben wir ein E-Piano, das Patrick spielen kann. Eine weitere Person, die in der Wohngruppe arbeitet, beherrscht das Gitarrenspiel. Patrick möchte die beiden Instrumente für seine neue Idee einsetzen. Auch das Wasserbett im Wohnzimmer gehört mit zum Plan. Wenn ich im Wasserbett liege, sehe ich die ganze Wohnzimmerdecke. Mit einem Projektil möchte Patrick eine Lichtshow aus bewegten Bildern installieren. Er projiziert die Bilder an die Decke. Gleichzeitig wird mich die Live-Musik vom E-Piano und der Gitarre stimulieren. Ich muss laut lachen, wenn Patrick von seiner Idee erzählt. Ich hoffe, die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lassen sich von seiner Euphorie anstecken!

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