Dr. Thomas Warzinek: Sterben kann schön und befreiend sein

Als Arzt und als Mensch ist Thomas Warzinek mit dem Leben und dem Sterben konfrontiert. Er erlebt Liebes und Leides. Mit DeinAdieu sprach der Mediziner und CVP-Kantonsrat über sein Leben, seine Erfahrungen und Erkenntnisse.

Am Freitag, 1. Februar 1985 geschah Schreckliches in Gauting bei München: Terroristen des «RAF-Kommando Patsy O’Hara» drangen in den frühen Morgenstunden auf das Privatgrundstück des Managers Ernst Zimmermann und erschossen ihn. Thomas Warzinek war gut 20 Jahre alt und arbeitete beim Rettungsdienst des Bayerischen Roten Kreuzes. «Ich traf als erster Helfer vor Ort ein», sagt der Arzt und CVP-Politiker aus Mels SG, der sich mit Betroffenheit an diesen Morgen zurückerinnert. 

Auf die Frage, was das mit einem Menschen mache, sagt er: «Ich konnte bis heute mit schrecklichen Situationen immer gut umgehen. Sie bewegen mich, aber sie zerstören mich nicht.» Er führe nun seit bald 17 Jahren seine Praxis und habe schon unzählige Menschen bis in den Tod begleiten dürfen, mal näher, mal weniger nah. «Es ist immer ein teils schmerzhaftes Abschiednehmen von Menschen, die einem lange nahestanden. Aber ich erlebe, der Tod kann durchaus etwas Schönes und wirklich Befreiendes sein.» 

Dr. Thomas Warzinek mit Ehefrau Eilisabeth
Thomas Warzinek mit Ehefrau Elisabeth. Das Paar zog vier Kinder gross. Er bezeichnet Elisabeth als seine Jugendliebe. (Foto: Eddy Risch)

Statt beim Bund zu dienen, absolvierte er den Zivildienst

Thomas Warzinek gehört für mich zu den Menschen, zu den Ärzten, denen ich mein Leben anvertrauen würde. Eindrücklich seine Menschlichkeit, seine Empathie und sein Einfühlungsvermögen. Der gross gewachsene Mann ist 56 Jahre alt, verheiratet mit Elisabeth, seiner Jugendliebe. Das Paar zog vier Kinder gross, arbeitet gemeinsam in Thomas’ Urologiepraxis in Sargans und beide engagieren sich: etwa in der Kirchgemeinde, in der Hospizgruppe Sarganserland und in der Politik. Thomas Warzinek sitzt als CVP-Vertreter im St. Galler Kantonsrat.

Der Entschluss Arzt zu werden, reifte in jungen Jahren. «Obwohl in einem wertkonservativen Elternhaus aufgewachsen, verweigerte ich den Militärdienst.» So absolvierte er Mitte der achtziger Jahre den 18 Monate dauernden Zivildienst beim Bayerischen Roten Kreuz. Ein Glücksfall. Dort lernte er seine grosse Liebe kennen. Elisabeth. «Sie ist meine bis heute einzige ‹Beziehung›, und ich liebe sie, finde es sehr schön, was wir zusammen erleben dürfen. Wir heirateten während meines Medizinstudiums und entschieden uns, früh Kinder zu bekommen.»

Das Elternhaus bezeichnet er als wertkonservativ. Vater und Mutter seien weniger politisch, als vielmehr religiös verwurzelt gewesen. Die katholische Kirche wäre daher «sein Zuhause» gewesen. Dort habe er zahlreiche Kontakte und Freundschaften gepflegt. Jahrelang sei er «mit der Kirche unterwegs» gewesen, in Ferienlagern mit der katholischen Jugend oder in Taizé, bekannt durch die ökumenischen Jugendtreffen. «Schon damals war die Ökumene selbstverständlich», sagt Thomas Warzinek. «Nach meinem Empfinden fast mehr als heute.» 

Fasziniert hat ihn aus den verschiedensten Gründen das Leben in Klöstern. «Ich lebte wochenweise im Benediktinerkloster Andechs und lernte fürs Abitur, resp. für Prüfungen während des Medizinstudiums.» Ein Klostereintritt sei damals irgendwie ein Thema gewesen, aber wegen des Zölibates dann doch nicht schaffbar. «Deshalb war ich gleichwohl willkommen, und die Jahre haben mich stark geprägt», sagt Thomas Warzinek und platziert eine Randbemerkung, wie er sie bezeichnet: «Obwohl ich über Jahre sehr engen Kontakt zu kirchlichen Strukturen hatte, erlebte ich in meinem Umfeld nie auch nur annähernd eine Missbrauchssituation. Ich begegnete ganz verschiedenen, sehr wertvollen und hilfreichen Menschen.»

Fasziniert hat Thomas Warzinek das Leben in Klöstern. Als Schüler und Student lebte er wochenweise im Benediktinerkloster Andechs und lernte fürs Abitur, resp. für Prüfungen während des Medizinstudiums. (Foto: Eddy Risch)

Christliche Werte sind das Fundament unserer Gesellschaft

Seit acht Jahren politisiert der mittlerweile Schweizer gewordene Urologe für die CVP im St. Galler Kantonsrat. Für ihn ist das «C» im Parteinamen zentral. Seines Erachtens sei es die Identität und «DNS» der Partei. «Wegen des C bin ich in diese Partei eingetreten. Das C muss uns CVPler leiten», sagt Thomas Warzinek. «Es steht für christlich, nicht für katholisch.»

Er versuche, vor dem Hintergrund eines christlichen Menschen- und Gesellschaftsbildes zu politisieren. «Ich bin überzeugt, wir leben in einer stark christlich geprägten Gesellschaft, trotz vieler Menschen, die sich nicht mehr den christlichen Kirchen verbunden fühlen. Nicht töten, nicht lügen, nicht betrügen, die Sorge um die Schwächeren und vieles andere sind christliche Grundüberzeugungen, die das Fundament unserer Gesellschaft bilden. Dafür stehe ich ein.» Für Thomas Warzinek sind es christliche Überzeugungen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. «Wir dürfen uns nicht als Spass- und Wohlfühlgesellschaft der Beliebigkeit zum Opfer machen. Wenn wir die Verbindung zu unseren Wurzeln verlieren, werden wir schwach und verletzlich.» 

«Grundsätzlich», sagt Thomas Warzinek, «ist das Leben uns gegeben, und es wird uns genommen. Wir sind nicht die Herrscher über Leben und Tod. Weder über das eigene, noch über das Leben anderer Menschen.» (Foto: Eddy Risch)

Herr Doktor: «Haben wir eine Pflicht, zu leben?»

Über ein Thema möchte ich unbedingt mit ihm reden. Über das selbstbestimmte Sterben. So frage ich etwas provokativ: «Haben wir eine Pflicht, zu leben? Siehst du Möglichkeiten, als Arzt, urteilsfähigen Menschen zu helfen, die des Lebens satt sind, aber keinen Lokführer traumatisieren wollen.» Thomas Warzinek überlegt und gibt mir zwei Antworten. «Grundsätzlich», sagt er, «ist das Leben uns gegeben, und es wird uns genommen. Wir sind nicht die Herrscher über Leben und Tod. Weder über das eigene, noch über das Leben anderer Menschen.» 

Er hebt die Hand, schaut mir in die Augen und fährt fort: «Es gibt da noch eine individuelle Sicht: Ich habe schwerstkranke Menschen begleitet, die sich angesichts unermesslichen Leidens für einen Freitod entschieden haben. Nie würde ich über sie urteilen. Nie würde ich ihnen dies zum Vorwurf machen. Ich verstehe sie. Vielleicht würde ich mir selbst in gleicher Not Gleiches überlegen.»

Andererseits könne ein begleiteter Suizid für Angehörige und weitere involvierte Personen ein schreckliches Geschehen sein. Nie dürfe jemand gezwungen werden, an einem Freitod mitwirken zu müssen. Und nie dürfe aus dieser grossen Not «ein Geschäft» werden. «Ich denke, der Gesetzgeber soll grundsätzlich das Leben schützen. Gleichzeitig soll er punktuell Raum lassen, sodass man nicht gegen das Gesetz verstösst, wenn man an einem Freitod mitwirkt.» Würde er aber die «Freitod-Szene» Schweiz sehen, mit einem richtiggehenden internationalen «Freitod-Tourismus», dann beschleiche ihn das Gefühl, «dass wir das rechte Mass nicht gefunden haben.»

Thomas Warzinek: «Mir ist es wichtig, Erkrankte und Angehörige offen über ihre Erkrankung und die möglichen Optionen medizinischen Handelns aufzuklären.» (Foto: Eddy Risch)

Leben verlängern um jeden Preis?

Als Urologe, als Arzt ist Thomas Warzinek ebenfalls mit terminalen Krankheiten konfrontiert. Wo liegt für ihn die Grenze zwischen «Leben verlängern um jeden Preis» und «Sterben ermöglichen in hoher Qualität»? Er nickt, sagt: «Ganz schwierige Frage. Lässt sich auf diese Art eine Grenze messerscharf für alle Situationen definieren? Mir ist es wichtig, Erkrankte und Angehörige offen über ihre Erkrankung und die möglichen Optionen medizinischen Handelns aufzuklären.» Sie wären es, die letztlich entscheiden müssten, wo für sie die Grenze liege. 

«Ich biete oft an, ‹weniger zu machen›, erlebe aber, wirklich häufig wünschen Patienten, Patientinnen sowie ihre Angehörigen eher eine «Maximaltherapie» bis zuletzt. Manchmal erstaunt mich das. Da scheinen mir wichtige Dinge bis zuletzt nicht geklärt. Und was geschieht am Ende des Lebens? Man kämpft um Monate oder Wochen. Will noch Dinge tun, die im Vorfeld allenfalls besser hätten erledigt werden können. Es gibt Momente, da wünschte ich mir, Patienten, Patientinnen würden sich vorweg mehr beschäftigen mit Endlichkeit, mit Pflegebedürftigkeit sowie mit der Notwendigkeit Hilfe anzunehmen ¬und – mit dem Ende selber.»

Glaubt der Arzt, Ehemann und Familienvater an ein Weiterleben nach dem Tod? Ans Paradies, den Himmel, ans Nirwana? Thomas Warzinek lacht mit einem unglaublich sympathischen Ausdruck und sagt: «Ich glaube und hoffe. Ich glaube, Gott begleitet uns im Leben. Jeden Tag. Dietrich Bonhoeffer hat Gott als Begleiter sogar noch in der Hölle des Konzentrationslagers erlebt und diese Gotteserfahrung mit dem wunderbaren Vers ‹Von guten Mächten treu und still umgeben› an uns weitergegeben.» 

«Ich kann nicht glauben, alles auf dieser Welt sei nur ein riesiger chemischer und physikalischer Zufall, und hinter unserem Sein liege kein tieferer Sinn», sagt Thomas Warzinek. (Foto: Eddy Risch)

«Ich glaube, nach unserem Tod kehren wir heim»

Es sei an uns, Gott in unserem Leben wahrzunehmen, oder nicht, sagt Thomas Warzinek. «Beweisen kann ich diese Gottesnähe natürlich nicht. Ich kann allerdings noch weniger glauben, alles auf dieser Welt sei nur ein riesiger chemischer und physikalischer Zufall, und hinter unserem Sein liege kein tieferer Sinn. Ich finde durchaus, es ist immer wieder schwer, an einen Gott und ein Leben nach dem Tod zu glauben. Noch schwerer scheint mir, überzeugt zu sein, dass es keinen Gott gibt und kein Leben nach dem Tod. Ich meine ebenso, viele heutige Menschen, die nicht an Gott glauben, sind keine Atheisten, die um diese Glaubensentscheidung gerungen haben.» Viele seien allenfalls nur Heiden – sie hätten sich nicht wirklich mit der Frage beschäftigt.

Thomas Warzinek: «Ich glaube, nach unserem Tod kehren wir heim zu einem Schöpfer oder einer Schöpferin. Dann werden wir unser eigenes Leben vor uns sehen und erkennen, wie wir es geführt haben.» Er lächelt: «Vielleicht ist aber alles auch ganz anders.»

Fürchten vor der letzten Reise würde er sich, Stand heute, nicht. «Wir nähern uns ja mit jeder Sekunde des Lebens dem Tod. Das macht mir keine Angst.» Andererseits wisse er nicht, wie er sich verhalten werde, wenn er sich tatsächlich und spürbar dem Tod nähere und ihm sozusagen direkt in die Augen schauen würde. «Ich glaube, ich hätte eher Angst vor einem qualvollen Sterben. Mein Leben empfinde ich als unendlich reich und erfüllt. Ich werde mich nicht beschweren, wenn ich einmal gehen soll.»

Thomas Warzinek: «Auf keinen Fall möchte ich in medizinisch ausweglosen Situationen jedwelche lebensverlängernden Massnahmen beanspruchen.» (Foto: Eddy Risch)

Die «letzte Reise» vorbereiten

Und, Thomas, hast du die letzte Reise vorbereitet? Hast du dein «letztes Büro» gemacht? «Teils, teils», sagt er und lacht etwas gequält, «gerade die Patientenverfügung wäre sehr wichtig – und ich habe sie nicht. Andererseits haben sich meine Frau Elisabeth und ich viel und oft darüber ausgetauscht. Sie weiss, was ich will und würde meine Interessen vertreten. Trotzdem: Eine Patientenverfügung muss sein. Da gestehe ich eine Unterlassung.»

Er wolle gut begleitet und gepflegt sein, bis zuletzt. Wolle, wenn möglich, wenig Schmerzen haben, wolle Schlafen können, wenn er müde sei und möglichst denken können, wenn er wach sei. Er wolle nicht erbrechen müssen, wolle keine Angst haben. «Auf keinen Fall möchte ich in medizinisch ausweglosen Situationen jedwelche lebensverlängernden Massnahmen beanspruchen. Als mein schwer kranker Vater im Sterben lag, hat man ihm bei einem aufkommenden Infekt noch ein Antibiotikum gegeben. Das habe ich sofort gestoppt.»

Zum Schluss schneide ich ein regionales Thema an. Dem Regionalspital in Walenstadt droht die Schliessung. Als Arzt und CVP-Politiker setzt sich Thomas Warzinek für die Erhaltung ein. Warum? «Die heimatnahe medizinische stationäre Versorgung für ältere Menschen ist einer der wesentlichen Gründe für die Erhaltung des Spitals Walenstadt. Die hiesige Palliativstation ist für die Menschen ‹Gold wert›. Für die Menschen im Sarganserland wäre es eine erhebliche Härte und ein massiver Qualitätsverlust der medizinischen Versorgung, wenn sie im letzten Lebensjahr mit oft mehreren notwendigen Hospitalisationen nur noch in Grabs oder Chur versorgt werden könnten.» 

Dr. Thomas Warzinek und DeinAdieu-Autor Martin Schuppli  reden über das Leben und das Sterben
Dr. Thomas Warzinek im Gespräch mit DeinAdieu-Autor Martin Schuppli. (Foto: Eddy Risch)

Einsatz fürs Regionalspital mit Palliativstation

Er ringt die Hände. Sagt: «Stell dir vor, was es für nicht motorisierte Angehörige bedeutet, die beispielsweise am Flumserberg leben, ihre sterbenden Angehörigen nicht mehr in Walenstadt auf der Palliativstation begleiten können.»

Text: Martin Schuppli, Fotos: Eddy Risch

Urologische Praxis 
Dr. med. Thomas Warzinek
Bahnhofstrasse 6, 7320 Sargans

Tel. +41 81 710 64 90 

www.warzinek.ch, warzinek@bluewin.ch

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