Patrick Rohr: «Ich finde, das Leben ist ein grosses Geschenk»

Er reiste für Helvetas und Ärzte ohne Grenzen nach Bangladesch ins Rohingya-Flüchtlingslager Cox's Bazar oder für die Ruedi Lüthy Fondation nach Simbabwe. Bei solchen Aufträgen ist der Fotojournalist Patrick Rohr mit allen Facetten eines Lebens konfrontiert. Mit Leid, mit Elend, mit Tod und Verderben. Und ebenso mit Freude, mit Menschen, die eine grosse Zuversicht ausstrahlen.

Wer in seine Augen schaut, spürt: Patrick Rohr, 50 , ist ein zufriedener, ein engagierter Zeitgenosse. Entspannt lehnt der Fotograf und Journalist an der mit Graffiti versprayten Wand in der Nähe der Zürcher Langstrasse. Wir treffen uns zum Gespräch über seine Arbeit für NGOs in den Krisengebieten von Asien und Afrika.

Patrick Rohr, kannst du dich, so im Strudel der Gefühle, gut abgrenzen?
Patrick Rohr: Nein, leider nicht immer. Oder besser: zum Glück nicht. Einfach ist es für mich auf keinen Fall, mich abzugrenzen – obwohl es für die Psychohygiene besser wäre.

Es wäre einfach, wir könnten das Gesehene und Erlebte einfach zur Seite schieben.
Schon. Gleichzeitig denke ich aber, dass meine Arbeit gerade deswegen eine gewisse Tiefe erreicht, weil ich die Geschichten der Menschen, denen ich begegne, nahe an mich herankommen lasse.

Patrick Rohr, Fotojournalist, NGO-Fotograf
Patrick Rohr, unterwegs für Biovision in Tansania, zeigt einer Mutter mit Kind das geschossene Bild. (Foto: Peter Lüthi/Biovision)

Geschah das auf der Reportage in Bangladesch ebenfalls?
Die Erlebnisse und Ereignisse im Rohingya-Flüchtlingslager bei Cox’s Bazar gingen mir sehr nahe. Ich schaute in viele Augen und sah unendlich grosse Hoffnungslosigkeit. Die geflüchteten Menschen sind nur geduldet, ihre Neugeborenen kommen als Staatenlose zur Welt. Der in Amsterdam lebende Walliser schweigt, schaut mich mit seinen blauen Augen an und fährt dann fort. Als ich zurück in Europa war, verfolgten mich die Bilder dieses Elends zehn Nächte lang.

Es gibt also kein Augenschliessen. Wo setzt du Grenzen? Fotografiertest du je ein sterbendes Kind?
Tatsächlich habe ich einmal ein sterbendes Kind fotografiert. Damals glaubte ich, das Kind könnte überleben. Später sagten mir die Ärzte, das Kind habe keine Chance. Darauf löschte ich die Bilder umgehend. Das war ich dem Kind schuldig.

Du hättest die Würde des Kindes verletzt.
Die Grenze ziehe ich immer, wenn es um die Würde eines Menschen geht. Darum bin ich froh, kann ich bei meiner Arbeit als NGO-Fotograf häufig glückliche Menschen besuchen. Menschen, deren Leben sich durch die Unterstützung einer Organisation ins Positive verändert hat.

Patrick Rohr, Fotojournalist, NGO-Fotograf
«Peace», signalisierte das Kind 2015 in Laos und lacht zusammen mit Patrick Rohr in die Kamera. (Foto: Patrick Rohr)

Bringst du, wenn du dein «Bildmaterial» bearbeitest, die «schreckliche» Szenen, Geräusche, Gerüche, Gefühle aus dem Kopf?
Das Auswählen und Bearbeiten der Bilder hilft mir beim Verarbeiten. Tatsächlich kommen dann Geräusche, Gerüche und Erlebnisse wieder zurück. Aber meist sind sie an schöne Erlebnisse gekoppelt.

Kannst du das etwas ausführen?
Ich erlebte in den letzten Jahren als NGO-Fotograf oft, wie unglaublich widerstandsfähig Menschen sein können. Ich habe sogar mit den Rohingya in Bangladesch viel gelacht. Das grösste Flüchtlingslager der Welt habe ich im Mai für Helvetas und Ärzte ohne Grenzen besucht. Einmal wurde ich von einer Rohingya-Familie zum Zmittag eingeladen, in einem der einfachen Bambus-Plastik-Verschläge, wo die Flüchtlinge leben. Das sind unvergessliche und sehr schöne Erlebnisse.

Zurück zum Leben und Sterben. Was machts mit dir, wenn du jetzt wüsstest, du würdest heute Nacht friedlich einschlafen und nicht mehr aufwachen?
Dann hätte es wohl so sein sollen. Leid täten mir mein Partner, meine Familie, meine Freunde, denn ich weiss, wie unglaublich schmerzhaft der unerwartete Tod eines geliebten Menschen sein kann.

Patrick Rohr, Fotojournalist, NGO-Fotograf
Patrick Rohr: «Ich probiere tatsächlich, jeden Tag zu einem guten und bewusst gelebten Tag zu machen. Und ich probiere, belastende Geschichten so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen, weil ich nicht mit ungelösten Problemen von dieser Welt gehen möchte.» (Foto: Bruno Torricelli)

Hast du dich vorbereitet auf deinen letzten Lebensabschnitt?
Ja, ich habe eine Patientenverfügung, ein Testament und einen Vorsorgeauftrag gemacht.

Macht dir der Tod Angst? Fürchtest du dich davor? Hast du Schiss vor dem Sterben?
Vor dem Tod habe ich keine Angst, eher vor dem Sterben. Ich möchte nicht, dass das ein langer und qualvoller Prozess wird.

Da höre ich ein Aber …
Tatsächlich. Sorgen macht mir eher, dass ich nicht alles abgeschlossen, nicht alles erledigt haben könnte. Traurig wäre, ich hätte mich nicht von den Menschen verabschieden können, die ich liebhabe. Solche Gedanken beschäftigen mich ab und zu.

Möchtest du lange leben?
Und wie. Lange und gesund leben möcht ich. Ich lebe nämlich unglaublich gerne. Ich finde das Leben ein grosses Geschenk!

Patrick Rohr, Fotojournalist, NGO-Fotograf

Patrick Rohr auf dem Velo ist kein aussergewöhnliches Bild. In Holland ist das «fiets» sein Hauptverkehrsmittel. «Hier in Zürich finde ich das Radfahren gefährlicher als in Amsterdam; dort wissen die Autofahrer, wie sie mit Velofahrern umgehen müssen». (Foto Bruno Torricelli)

Vor dem Kamera-Leben drehte Patrick Rohr am Umdrucker

Patrick Rohr lebt zusammen mit seinem Ehemann Simon Ming in Zürich und Amsterdam. Vor gut zehn Jahren gab er seinen Job beim Schweizer Fernsehen auf und gründete in Zürich eine Firma für Kommunikationstrainings und Medienproduktionen. Und er wechselte hinter die Linse einer Kamera: An der Fotoacademie Amsterdam absolvierte er eine vierjährige berufsbegleitende Ausbildung zum Fotografen.

Die Neugier ist geblieben. Patrick Rohr sagt von sich: «Ich war schon als Kind sehr neugierig, wollte entdecken, verstehen.» Und so beschloss er mit acht Jahren: «Wenn ich gross bin, will ich Journalist werden!» Patrick sagt, er habe als Kind ein eher ungeduldiges Naturell gehabt. «Ich konnte nicht warten, bis die Schule endlich vorbei war und ich Journalist werden konnte. » So fing ich an, ein eigenes Heft zu kreieren. Ein Heft mit Interviews, Comics, Bastelbogen, Gartentipps. Es hiess «Spukius & Co.»

Grossvater half bei Zeitungsgeburt
Der Grossvater war Weibel im Gemeindehaus von Netstal im Kanton Glarus, wo Patrick den ersten Teil seiner Jugend verbrachte. Nach Büroschluss schlichen Opa und Enkel ins Büro des Gemeindeschreibers. «Dort stand ein Umdrucker – das waren diese Geräte, in die man eine Matrize spannen und über einen in Alkohol getränkten Schwamm rund fünfzig Blatt drucken konnte», sagt Patrick Rohr.

Und so druckte das Duo heimlich die Hefte, die Patrick dann für fünf Rappen an Nachbarn, Mitschüler und Lehrer verkaufte. «Als ich merkte, dass das Heft ankam», sagt er und lacht, «ging ich mit dem Preis rauf. Erst auf zwanzig Rappen und später, in der sechsten Klasse, auf fünfzig Rappen.»

In der Regel lag dem Heft ein Teil eines mehrteiligen Bastelbogens bei. «Das Abo kostete 10 Franken, das einzelne Heft 50 Rappen», sagt Patrick Rohr. Dann waren die 6 bis 7 Ausgaben pro Jahr im Einzelkauf günstiger als im Abo. Wo war denn der Vorteil des Abos? «Damit verpasste man kein Heft», sagt der fröhliche Fotograf. Wir lachen beide.

Mit dem verdienten Geld konnte sich der Jung-Journalist auf dem Flohmarkt bald einen eigenen Umdrucker kaufen. «Im Keller des Elternhauses richtete ich meine eigene Redaktion ein. Analog der Zeitschrift Yps mit dem karierten Känguru hatte mein Heft eine eigene Comicfigur.»

Patrick Rohr, Fotojournalist, NGO-Fotograf
Patrick Rohr erzählt DeinAdieu-Autor Martin Schuppli beim Pastaessen im «Cinque» nahe der Zürcher Langstrasse von seinen Jahren im Glarnerland, im Wallis, beim Schweizer Fernsehen. (Foto: Bruno Torricelli)

Freudige und traurige Geschichten beim TV SRF
Einige Jahre später realisierte Patrick Rohr erste Reportagen fürs Schweizer Fernsehen in «10vor10» und «Schweiz aktuell». Er erinnert sich, wie er als Reporter mitgeholfen habe, die Machenschaften des European King’s Club aufzudecken. «Ein übles Schneeballsystem, das Tausende rechtschaffene Sparer um ihr ganzes Geld gebracht hat. Da habe ich viele traurige Geschichten gehört», sagt er.

In der «Arena», die Patrick Rohr von 1999 bis 2002 leitete, flogen natürlich immer wieder die Fetzen. «Besonders geblieben ist mir die – ungeplante – Reihe von fünf Sendungen hintereinander, die wir zum Untergang der Swissair und zum Aufbau der Swiss machten. Da gab es keine vorbereiteten Politiker-Statements, da war alles echt, und die Emotionen im Studio gingen mir echt unter die Haut.

Unvergessen sind für den Journalisten natürlich ebenso Begegnungen, die er in der Sendung Quer machte. In dieser redete er während fünf Jahren Freitag für Freitag live über alle Schattierungen des Lebens. «Besonders geblieben ist mir unsere Berichterstattung über den damals 15-jährigen Dominic Bein, der von einer Gruppe Neonazis grundlos fast zum Krüppel geschlagen wurde. Er trug einen schweren Hirnschaden davon und musste, wie ein kleines Kind, alles wieder lernen: Reden. Laufen. Schreiben. Ich habe heute noch Kontakt mit ihm, er wird ein Leben lang schwer behindert bleiben.»

Text: Martin Schuppli, Fotos Bruno Torricelli


Patrick Rohr arbeitet als Fotojournalist für NGOs, zudem bietet der erfahrene Moderator seit gut zehn Jahren über seine Agentur Patrick Rohr Kommunikation GmbH mit Sitz in Zürich Medientrainings an, Rhetorikkurse, journalistische Produkte sowie Kommunikationskonzepte. Ebenso moderiert er Anlässe und gab schon vier Sachbücher heraus. Sein neuestes Werk ist ein Reportagebuch über Japan.

Japan
Patrick Rohr
Abseits von Kirschblüten und Kimono

ISBN: 978-3-03875-063-5

Patrick Rohr Kommunikation GmbH
Riedtlistrasse 27, 8006 Zürich

Tel. 044 361 04 04

info@patrickrohr.ch | www.patrickrohr.ch

2 Antworten auf „Patrick Rohr: «Ich finde, das Leben ist ein grosses Geschenk»“

Andrea Rauchenstein sagt:

Tolle Geschichte. Über einen tollen Menschen.

Martin Schuppli sagt:

Danke Andrea

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