«Wir waren die Glücklichen, die auf die Reise gehen durften»

«Halt im Paradies» ist ein Dokumentarfilm, der die eindrückliche Geschichte der Rotkreuz-Zugkinder erzählt. Nach dem 2. Weltkrieg reisten über 180’000 Kinder, organisiert durch das Rote Kreuz, mit dem Zug zur Erholung in die Schweiz. Zu Ehren des Weltrotkreuztages am 8. Mai 2023 ist der Film erstmals auch online zu sehen. Die Historikerin und Co-Filmemacherin Lea Moliterni erzählt.

Alles begann im Februar 2020 mit dem Anruf einer hochbetagten Spenderin des Zürcher Roten Kreuzes. Die mittlerweile 93-jährige Silvia Ludwig wollte den Rotkreuz-Notruf bestellen und erwähnte nebenbei, dass sie als 17-Jährige im Auftrag des Roten Kreuzes Hunderte von Kindern als Begleiterin mit dem Zug aus den kriegszerstörten Städten Berlin und Wien in die Schweiz zur Erholung brachte. Das war 1947. Ein einzelner Satz dieses Gesprächs blieb mir, Historikerin und Nachlass-Verantwortliche des Zürcher Roten Kreuzes, besonders haften:

«Wir hatten gar nicht so viele Arme wie nötig gewesen wären, um diesen Kindern Nähe zu geben.»

Geborgenheit und Suppe für die kriegsversehrten Kinder, Silvia Ludwig vor der Abreise ins zerbombte Wien, Sommer 1947, Bild:  zVg

Diese Aussage liess mich nicht los und so reiste ich ins Zürcher Unterland, um die betagte Dame zu besuchen. Aus diesem unvergesslichen Besuch – der just zwei Wochen vor dem ersten Schweizer Lockdown stattfand – entstand der Zeitungsartikel «Die Zeitzeugin», welcher erneut ungeahnte Folgen haben würde. Zum bebilderten Artikel über die ehemalige Zugkinder-Begleiterin publizierten wir unten rechts einen kleinen Aufruf: «Zeitzeugen gesucht! Kennen Sie (noch in der Schweiz lebende) ehemalige (Pflege-)Kinder dieser Kinderzüge oder waren Sie selber eines?» Was dann geschah, übertraf all meine Erwartungen: Bereits am ersten Tag meldeten sich 18 Personen. Nach zwei Monaten waren es bereits über 100 Hochbetagte, die anriefen, Briefe und E-Mails schrieben, Tagebuchaufzeichnungen und Bilder aus jenen Tagen schickten. Und alle wollten ihre Geschichte erzählen. Wie sie damals vor Hunger und Kälte gerettet worden seien. Wie sie in der Schweiz zuerst unter Magenschmerzen litten, da sie schlicht nicht an ausreichendes Essen gewohnt waren. Wie sie das erste Mal eine Kuh oder einen blühenden Kirschbaum erblickten. Mir wurde nach wenigen Gesprächen klar, dass hier ein grosser Schatz verborgen liegt. Mir wurde ebenso bewusst, dass die SRK-Kinderhilfe – so der offizielle Name der Hilfsaktion – auch nach 80 Jahren immer noch immens berührte und präsent war. Viele dieser Zugkinder siedelten übrigens im Erwachsenenalter in die Schweiz über.

Langsam reifte die Überlegung dazu, diese Gespräche filmisch festzuhalten. Ich wollte – gemeinsam mit dem Zürcher Filmemacher Hans-Urs Bachmann – diesen Stimmen ein Gesicht geben. Was diese Menschen vor über dreiviertel Jahrhundert einst an Solidarität und Unterstützung erlebten, prägte deren ganzes Lebens.

Die Dankbarkeit darüber, im Paradies gelandet zu sein, war denn auch eine der häufigsten Aussagen, die ich bei den Zeitzeugen-Gesprächen hörte. So auch von Gerhard Sauder, dem emeritierten Literaturprofessor, der in der Nachkriegszeit als kleiner, schmächtiger Bub an die Zürcher Josefstrasse zu «Onkel und Tante» kam, wie er seine Gasteltern bis heute liebevoll nennt. Bis zu deren Tod in den späten 1970er-Jahren pflegte er – wie so viele andere Zugkinder auch – engsten Kontakt zu seinen damaligen Gasteltern.

«Es war eine glückliche Zeit. Ich hätte mir damals im Sommer 1947 keine besseren Gasteltern wünschen können. Die Erinnerung an sie verbindet sich mit tiefer Dankbarkeit – auch dem Roten Kreuz gegenüber, das uns unterernährten und vom Krieg verstörten Kinder diese paradiesischen Tage schenkte.»

Der ganze Stolz eines 9-jährigen Buben: Ein Holzschiff, gezimmert mit dem Gastvater, Zürich 1947, Bild: zVg

Es war denn auch das persönliche Kennenlernen von Gerhard Sauder, das uns bewog, tatsächlich einen Dokumentarfilm zu drehen. Weshalb? Weil wir mit dem vitalen und reflektierten Saarländer eine tragende Figur für den Film gefunden hatten. Sein Ziel war, seine Reise von 1947 von Karlsruhe nach Zürich nochmals anzutreten und alle Schauplätze nochmals zu besichtigen, um eine Erinnerungsschrift für seine Nachkommen zu schreiben. Insgesamt porträtierten wir für den Film sechs Hochbetagte, die in der Nachkriegszeit zur Erholung in die Schweiz kamen.

Noch einmal im Leben auf dem Zürichsee zu fahren – Gerhard Sauders inniger Wunsch, Sommer 2021

Erinnerungen fürs Leben

Schliessen möchte ich diesen Beitrag mit einer Reflexion zu den Themen Erinnerung und Weitergeben. Letzten Herbst durfte meine Arbeitskollegin und Rotkreuz-Autorin Anita Ruchti ein Gespräch mit Professor Lutz Jäncke über «Wie wir erinnern» führen. Ein bestimmter Satz blieb mir dabei in besonderer Erinnerung: «Der grösste Teil der Persönlichkeit entsteht durch Erinnerungen». Ich realisierte plötzlich, dass Professor Lutz Jäncke dieses Phänomen beschrieb, das ich als Historikerin, aber auch in den Testamentsberatungen erlebe:

Kennen Sie dieses warme Gefühl, das einen überkommt, wenn man sich an etwas Schönes erinnert? Und man sofort – mit allen Sinnen – viele kleine Details von damals wieder vor den Augen hat? Wie wenn sich die Erinnerung jener vergangenen Momente fest in uns verankert hätte und wir das damals empfundene Glücksgefühl wieder erleben können.

Als Historikerin befasse ich mich seit über zwei Jahrzehnten mit dem Blick ins Vergangene – wenn ich mit Zeitzeugen spreche, sind deren Erinnerungen sogar oft der einzige Zugang zu deren Vergangenheit. Erst als ich vor acht Jahren begann, Testamentsberatungen für das Zürcher Rote Kreuz anzubieten, realisierte ich, wie gross die Parallelen beider Tätigkeiten sind: Denn beim Verfassen eines Testaments ist der Blick auf das eigene Leben oft die wichtigste Entscheidungsgrundlage für das, was bleiben soll. Ich erlebe im Beratungsalltag immer wieder, dass erst der Blick zurück zeigt, was wirklich wichtig war. Erst wenn klar wird, was einen – im Guten wie im Schlechten – geprägt hat, können wir an die nächste Generation denken und entsprechend weitergeben.

Die Botschaft des solidarischen Handelns hat Jahrzehnte überdauert und wird auch in Zukunft ihre Gültigkeit behalten. Dass der Film mit seiner Aussage in der Tradition des Schweizerischen Roten Kreuz steht und in eigenen Worten den Gründungsgedanken von Henri Dunant weiterträgt, nämlich dass Menschen füreinander da sein sollen, eröffnet eine weitere Sichtweise auf das Paradies: das Paradies als Haltung, als freiwilligen und aktiven Entscheid, für die Mitmenschen verfügbar zu sein, da wo sie Hilfe, Zuneigung, Aufmerksamkeit oder Sicherheit brauchen. 

In diesem Sinne lade ich Sie ein, in die Erinnerungen der Zugkinder und in Ihre eigenen Erinnerungen einzutauchen.

Zum Film haben wir das Erinnerungs-Büchlein «Unvergessen» produziert, das Sie einlädt, Ihr eigenes Leben in den Blick zu nehmen. Hier die kostenlose Erinnerungs-Büchlein bestellen.

Für Fragen und Rückmeldungen bin ich gerne per E-Mail für Sie da: lea.moliterni.zugkinder@srk-zuerich.ch

Ihre Lea Moliterni

Die Historikerin und Co-Filmemacherin Lea Moliterni mit dem Protagonisten Gerhard Sauder nach Abschluss der Dreharbeiten im Oktober 2021

Eine Antwort auf „«Wir waren die Glücklichen, die auf die Reise gehen durften»“

Hanni Lutz sagt:

Wir hatten auch so ein Kind ich war 3 Jahre alt und Hannelore 10 wir haben noch heute innigen Kontakt, wie könnte ich ihr den tollen Bericht zusenden?

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