«In der Corona-Krise hält das Leben den Atem an»

Die Spitalseelsorgerin Kerstin Rödiger erlebt die Corona-Krise zu Hause bei den Kindern. Fern von «ihren» Kranken schreibt sie gegen die Ohnmacht. Sie schildert DeinAdieu, was die Pandemie mit ihr macht.

Kerstin Rödiger, Spitalseelsorgerin im Universitätsspital Basel, antwortete mit nachstehendem Beitrag auf die Frage des DeinAdieu-Autors: «Was macht das Corona-Virus mit dir?» Die 44-jährige Mutter von zwei Kindern schickte einen berührenden Text zum Thema, das uns alle betrifft.

Nach diesen drei Wochen im Strudel der Geschehnisse denke ich an die Worte einer Vertrauten in meinem Arbeitsumfeld. «Schreiben hilft», hat sie in einer Mail geschrieben und mich gefragt, wie es mir gehe. Schreiben hilft. Vielleicht. Wahrscheinlich, denn schreiben hilft mir tatsächlich schon immer. Ich hatte es in dem Chaos nur einfach vergessen. Schreiben hilft, Gedanken zu sortieren, Anker zu finden. Schreiben ist für mich ein Schreiben gegen die Ohnmacht.

Tatsächlich fühle ich mich so hilflos. Tatsächlich fühle ich mich ebenso sehr glücklich. Beides gleichzeitig. Verrückt?

Durch die strenge Besuchsbeschränkung und aus völlig verständlichen Gründen des Schutzes dürfen wir Seelsorgenden nur sehr begrenzt ins Spital, ausser zwei meiner Kollegen und Kolleginnen, die dankenswerterweise im Moment die Aufgabe der Corona-Seelsorge übernommen haben.

Aber so kann ich nur zusehen und fühle mich, als hätte ich die Stationen, auf denen ich sonst bin, «im Stich gelassen». Ich fühle mich diesbezüglich richtig schrecklich. Eigentlich sollte ich da sein, mit offenem Ohr und Herzen. Sollte stützen, die Ängste tragen helfen und ein Lachen herbeizaubern. Das geht nicht. Das Virus trennt mich von ihnen. Was ich sonst einbringen kann in den Alltag im Spital, Nähe und Präsenz, ist jetzt gefährlich.

Corona-Krise, Kerstin Rödiger, Spitalseelsorgerin, Basel
Kerstin Rödiger: «Wir Seelsorgenden dürfen nur sehr begrenzt ins Spital. Ich vermisse ‹meine› Stationen.» (Foto: Ueli Hiltpold)

Wenn zu viel Nähe zur Gefahr wird

Nun, mit diesen Gefühlen bin ich nicht allein. Genauso geht es vielen jetzt. Genauso ohnmächtig, eingeschlossen und hilflos fühlen sich jetzt viele Menschen. Sie können nach einer Quarantäne im Ausland nicht zurück nach Hause, weil es keinen Flug mehr gibt. Den alten Nachbarn traut man sich kaum zu fragen, wie es gehe. Denn wie ansteckend ist es jetzt genau, wenn man vor den Haustüren mit 1,5 m Abstand steht? Die Freunde, die sich Ende März endlich nach fast zwei Jahren wiedersehen wollten, können sich nicht treffen. Die Eltern besuchen wir am besten nicht, denn sie gehören zur Risikogruppe. Enkel geben deshalb Essen und Bilder an der Tür ab.

Nähe wird zur Bedrohung. Wo soll das noch hinführen? Wir Menschen sind angewiesen auf Kontakte, auf Zuwendung und Zuneigung. Doch genau diese Momente der Nähe erhöhen die Gefahr, dass dieser Ausnahmezustand noch länger andauert. Bis zu den Sommerferien. Welch albtraumhafte Vorstellung. Was erleben die Menschen in meiner Umgebung? Da gilt es, die Kinder nochmals wochenlang bei Laune zu halten. Programme zu finden, den Nachwuchs zu fördern und zu fordern und bei allem geduldig zu bleiben und noch irgendwie zu arbeiten. Ich hörte traurige Sachen. Denke an die junge Frau, die gerade schwanger ist in diesen Zeiten. Sie quält die bange Frage, in welche Welt werde ich mein Kind gebären. So oder so oder so: ein Kraftakt.

Doch – wie glücklich bin ich persönlich. Trotz allem geniesse ich so viele Möglichkeiten. Wir leben sicher in einem Haus. Haben Garten, Auslauf. Ich muss keine Existenzängste haben, denn ich führe weder Restaurant noch Geschäft. Ich lebe in keinem Auffanglager in Griechenland, in keinem Pflegeheim in Spanien, auch nicht in Brasilien, wo alle Angestellten natürlich ohne Lohn nach Hause geschickt werden oder es in einem Teil des Amazonasbeckens gerade mal drei beatmete Spitalplätze gibt – für eine ganze Diözese.

Ich lebe auch nicht in den USA, wo die wenigsten Menschen eine Krankenversicherung haben. Mir fällt bloss die Decke auf den Kopf, und meine Hilflosigkeit nimmt mir den Atem. Das Leben hält den Atem an.

Kerstin Rödiger, Spitalseelsorgerin, Basel
Kerstin Rödiger: «Wir wissen noch nicht, wie weit uns die Corona-Welle weg trägt von dem, was sonst unser Leben war.» (Foto: Ueli Hiltpold)

Angst greift unsere Seelen an

Nun, das ist es gerade, worum es geht. Den Atem. Das Virus greift die Lunge an. Im Hebräischen ist die Kehle (näfäsch) ebenso die Seele. Alles, was uns die Luft zum Atmen nimmt, greift ebenfalls unsere Seele an. Das Alleinsein mit den Gedanken und Sorgen, mit den Ängsten und Zweifeln oder – noch schlimmer – das Alleinsein im Kranksein und in der Ungewissheit, wie es meinen Angehörigen geht, kommt Folter gleich.

Was können wir dagegen tun? Vielleicht zunächst nicht viel. Die Welle rollt über uns hinweg. Wir wissen noch nicht, wie weit sie uns weg trägt von dem, was sonst unser Leben war. Aber immer gut ist: erst einmal tief Luft holen. Nichts müssen. Den Moment leben. Die Vögel beim Zwitschern belauschen, den Regenwurm bei seiner mühsamen Arbeit beobachten, die Sterne über uns bestaunen. Den Kindern habe ich angefangen, «Momo» von Michael Ende vorzulesen.

Eine gute Idee. Momo kann zuhören, sodass sich die Menschen selbst besser verstehen. Beppo der Strassenkehrer hat die Weisheit, eine Strasse nicht als Ganze anzuschauen, sondern nur Besenstrich für Besenstrich zu sehen und Gigi kann Geschichten erzählen, da geht einem das Herz auf.

Und ja. Danke, liebe Vertraute, für deinen Hinweis. Schreiben hilft.

Text: Kerstin Rödiger, Bearbeitung: Martin Schuppli, Fotos: Ueli Hiltpold

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