Hans Ulrich Jäger: Abgerechnet wird im Himmel

Logisch, wer mit einem erfahrenen Theologen diskutieren kann, fragt: «Was passiert nach dem Tod?» Hans Ulrich Jäger antwortete: «Alles muss auf den Tisch, dadurch gibt es einen Frieden.»

Menschen interessieren sich für Menschen. Und weil Autoren ebenso Menschen sind, freute ich mich unsinnig, Hans Ulrich Jäger-Werth kennenzulernen. Der ehemalige reformierte Dorfpfarrer in Einsiedeln ist ein vifer, engagierter Zeitgenosse. Einer, der für die Ökumene und seine Mitmenschen einsteht, einer, der mit dem katholischen Pater Maurus im Duo Geistlich musizierte. Einer, der sich für politische Gefangene in Südkorea einsetzte.

Wer Hans Ulrich Jäger googelt, findet u. a. ein LinkedIn-Profil. Dort taucht er auf als alt Pfarrer | Rentner | Stellvertreter | Musikant | theol. Schriftsteller. Jetzt sitzt er mir gegenüber, rasch sind wir ins Gespräch vertieft. Eine fröhliche Stunde. Unterhaltsam. Lehrreich.

Pfarrer Hans Ulrich Jäger ist ein Zürcher, geboren in Winterthur, aufgewachsen im Zürcher Friesenberg-Quartier. Begeistert erzählt er von seiner Jugend. Vom Schlitteln und Skifahren an den Hängen des Üetliberg. Er sei Legastheniker gewesen und habe nach der Primarschule ins Gymi gewollt. «Es herrschte damals ein strenges Regime. Von anfänglich 32 Klassenkameraden blieben nach dem ersten Jahr 13 übrig», sagt er und lacht.

Hans Ulrich Jägers Vater war Buchhalter, und als der Sohn den Eltern eröffnete, er wolle Theologie studieren, waren die nicht erbaut. Er liess sich nicht abhalten, wechselte ins Literaturgymnasium, lernte Griechisch sowie Hebräisch und begann mit 19 Jahren zu studieren. «Zuerst in Zürich, dazwischen ein Semester bei den Waldensern und an der Gregoriana in Rom. Zugleich hörte ich in Basel bei Vorlesungen von Karl Barth rein. Er gehört wohl zu den bedeutendsten reformierten Theologen des vergangenen Jahrhunderts.»

Hans Ulrich Jäger schlägt die Bibel auf
Hans Ulrich Jäger schlägt einen Text in der Bibel nach. Er fürchte sich nicht vor dem Tod, und auch das Sterben bereite ihm keine Angst, sagt er. (Foto: Paolo Foschini)

In Zürich, Rom und Basel Theologie studiert

Nach dem Studium fragte Sozialethiker Arthur Rich den jungen Mann, ob er doktorieren wolle. Hans Ulrich Jäger sagte zu, hängte ein Semester an und schrieb seine Dissertation über Leonhard Ragaz. «Ein reformierter Theologe und Mitbegründer der religiös-sozialen Bewegung in der Schweiz. Einer der systematisch dachte, sich politisch engagierte.»

Der Zürcher Student las tausende Seiten Vorlesungsmanuskripte. Als er an der deutschen Universität Münster weiter studieren wollte, kam eine Anfrage aus Basel dazwischen. «Ich wurde Verweser für den Studentenseelsorger Pfarrer Robert Leuenberger. Der Vater von Bundesrat Moritz Leuenberger gründete damals die Kirchlich-Theologische Schule Basel.»

Zurück in der Limmatstadt arbeitete Theologe Jäger mit Arthur Rich zusammen, der war dabei das Institut für Sozialethik aufzubauen. «Ich wurde sein Assistent. Das war die Zeit, als ich zusammen mit meiner Frau Erika eine Familie gründen wollte.» Die jungen Eheleute wohnten damals in einer kleinen Wohnung in Schwerzenbach ZH. Im gleichen Haus lebten drei weitere Uni-Assistenten – «das akademische Proletariat».

Hartnäckige Wohnungssuche zeigte Erfolg

Die jungen Eltern suchten eine noch günstigere Wohnung «Wir wollten zurück nach Zürich in den Friesenberg. Und so hielt ich mich an die Bibel und machte es wie die bittende Witwe im Gleichnis vom ungerechte Richter. Nachzulesen bei Lukas 18, Vers 1 bis 8. Die gute Frau bestürmte den Mann solange, bis sie Recht bekam.» Wieder lacht der fröhliche Gesprächspartner verschmitzt. «Und so ging ich immer wieder zum Verwalter der Siedlung und fragte ihn bescheiden aber hartnäckig, ob für uns eine Wohnung frei wäre. Wir waren ja am 14. Dezember 1962, quasi über Nacht, eine kinderreiche Familie geworden.» Am 24. Dezember wurde die Weihnachtsgeschichte wahr. Die junge Familie mit den zwei Wochen alten Zwillingsbuben erhielt eine Vierzimmerwohnung. Sie kostete 120 statt 250 Franken Miete. Ein Assistent am Institut für Sozialethik verdiente damals 800 Franken.

Insgesamt vier Jahre arbeitete Hans Ulrich Jäger bei Professor Rich. «Ein grosser Sozialethiker, er tat sich aber schwer mit anderen Meinungen. Damit wir Frieden hatten, machte ich es wie Abraham, der seinen Neffen Lot verliess.» Aus gesundheitlichen Gründen suchte ich mir eine hochgelegene Gemeinde. Da wurden Hütten, Schönenberg, nachher Hirzel fei. Als Hütten zum zweiten Mal frei wurde, dachte ich: «Wenn ich jetzt nicht gehe, wäre es Gott versucht.» Und kurz darauf wurde der junge Theologe als Pfarrer nach Hütten, oberhalb Richterswil, gewählt.

In einem Lager der Jungen Kirche starb ein Mädchen

Am Ende seiner Basler Zeit wurde sein Glaube auf die Probe gestellt. «Bei einer Tour auf den Corvatsch stürzte ein Mädchen in eine Gletscherspalte und starb. Mir wurde der Prozess wegen fahrlässiger Tötung gemacht.» Das warf den jungen Mann aus den Socken. «Ich geriet in eine Glaubenskrise. Gut erinnere ich mich an den Gedanken, wie schön es sei, wenn man auf den Herrgott vertrauen könne. Aber ausgerechnet er liess mich im Stich. Er liess es zu, dass dieses Mädchen starb. Kann man auf ihn vertrauen? Er hat es ja auch zugelassen, dass im 2. Weltkrieg über sechs Millionen Juden umgebracht wurden.» Diese Glaubenskrise dauerte sieben Jahre. «Erst in Hütten lernte ich nach etwa zwei Jahren von Gemeindemitgliedern, wieder auf den Gott zu vertrauen.»

Hans Ulrich Jäger
Hans Ulrich Jäger: «Als ich 1970 in Einsiedeln als reformierter Pfarrer begann, waren wir eine mausarme Diasporagemeinde. Eine gewisse Zeit zahlten die Zürcher einen Teil meines Lohnes.» (Foto: Paolo Foschini)

Auftritt mit Dixielandband im Hallenstadion

Musik war immer ein Thema für den späteren Einsiedler Pfarrer. «Zeitweise wurde ich als Reisender gehandelt. Ein Reisender für Jugend und Musik. Für Spirituals und Jazz. «Mit dem verstorbenen Journalisten Jürg Ramspeck spielte ich in einer Jazzkapelle und im Hallenstadion trat ich im Rahmen der Aktion ‹Zürich wohin› mit einer Dixielandband auf.»

Aber auch die Ökumene war ihm ein grosses Anliegen. «Bei einer Tagung lernte ich den Jesuiten Werner Grätzer kennen. Mit ihm gab ich im Lassalle-Haus in Bad Schönbrunn bei Zug und im Kloster Kappel ökumenische Exerzitien.» Der Jesuitenpater und Hans Ulrich Jäger werden als die Pioniere der spirituellen Ökumene bezeichnet. Sie waren es, die erste Exerzitien gemeinsam für Reformierte und Katholiken angeboten haben.

1970 wurde der evangelische Pfarrer Hans Ulrich Jäger nach Einsiedeln berufen. Damals zählte das Klosterdorf rund 200 Reformierte. «Wir betreuten ebenfalls Zürcher, die ihre Wochenenden auf Campingplätzen rund um den Sihlsee verbrachten.» Hans Ulrich Jäger lacht. Sagt: «Wir waren eine mausarme Diasporagemeinde. Eine gewisse Zeit zahlten die Zürcher einen Teil meines Lohnes.»

Mit Pater Maurus im «Duo Geistlich» musiziert

Rasch baute der kontaktfreudige Mann Kontakte auf zu den Mönchen im Kloster. «Wenn man so sagen kann, war die Musik schuld. In der damaligen Jugendzeitschrift ‹Kontakt› hatte ich Bedenken zum Thema Jazz in der Kirche geäussert. Pater Roman Bannwart hatte den Artikel gelesen und sich mit mir in Verbindung gesetzt. Ein anderer Auslöser für die interkonfessionelle Arbeit war Pater Maurus, der damalige Dorfpfarrer von Einsiedeln. Mit ihm verband Pfarrer Hans Ulrich Jäger eine besondere Freundschaft. Bei vielen Gelegenheiten traten die beiden als Duo Geistlich auf. Dieser Name tauchte erstmals in der Fastnachtszeitung auf. Die beiden Musiker demonstrierten so gelebte Ökumene. Hans Ulrich Jäger spielte Posaune und Kornett. Pater Maurus blies die Trompete. Später traten beide mit Alphörnern auf. Lachend sagt er: «Spielte ich bei Campinggottesdiensten Kornett, meinten die Leute, ich sei von der Heilsarmee. Ich predigte in einer normalen Sprache. Schliesslich war Jesus mein Lehrmeister. Ich trug auch keinen Talar.»

Hans Ulrich Jäger
«Spielte ich Kornett, meinten die Leute, ich sei von der Heilsarmee.» (Foto: Paolo Foschini)

Er setzte sich für politische Gefangene in Südkorea ein

1980 veröffentlichte der Pfarrer sein Buch «Politik aus der Stille». Darin porträtierte er Theologen wie Ernesto Cardenal, Dom Helder Camara, Martin Luther King, Christoph Blumhardt, Niklaus von Flüe. «Alles aufmüpfige Persönlichkeiten», sagt der Autor. Wieder lacht der Pfarrer. «Ich war politisch engagiert, betrieb aber keine Parteipolitik.» Er schrieb Artikel, war Herausgeber des Kirchenblattes und reiste 1981 nach Südkorea, als im Rahmen des Gwangju-Aufstandes über hundert Pfarrer angeklagt waren, weil sie sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Hans Ulrich Jäger hielt Vorträge über Zwinglis politische Ethik und über religiösen Sozialismus.

«Ich büffelte Englisch, liess meine Vorträge übersetzen, und lebte zwei Monate in Südkorea. Und zwar mit flauem Gefühl. Nicht um mich hatte ich Angst, sondern um meine Gastgeber.» Der Schweizer Pfarrer las in zwei Universitäten, hielt im ganzen Land Vorträge und nahm immer am Sonntagnachmittag an Versammlungen von Angehörigen politischer Gefangener teil. «Der Geheimdienst war überall. Zuhause setzte ich mich ein für politische Gefangene sowie für Menschen, die zum Tod verurteilt waren.»

Zu stoppen war der engagierte Mann nicht. Deshalb wohl ereilte ihn ein Unfall. «Ich musste sechs Wochen ins Spital und trug lange Zeit ein Korsett. Zum Glück. Ich wäre in ein Burnout gelaufen. Denn wer aktiv ist, wird überall und von allen angefragt. Also musste ich lernen, Nein zu sagen. Ich war aber bis 2001 noch vier Mal in Korea.»

Hans Ulrich Jäger lehnt sich zurück, legt die Hände aufeinander, spreizt die Finger und sagt: «Ich hatte zwei ganz gute Zeiten. Als Kind vor der Schule und jetzt als Pensionierter.»

Seine Frau Erika habe er in einem «gefährlichen Moment» kennengelernt, nämlich im Praktikumskurs Ende des Studiums. Sie war Hauswirtschaftsleiterin und eine Deutsche. Hans Ulrich Jägers Mutter mochte die Deutschen nicht. Als er sich an einen Freund, den Leiter von Boldern, wandte, wies der auf die Poblematik von deutschen Pfarrfrauen hin, meinte dann aber «bei Fräulein Werth – mach das Hasi.»

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Nachfolger in der Pfarrei Einsiedeln ist Sohn Urs

Erika sei eine ideale Pfarrfrau gewesen, sagt Hans Ulrich Jäger. «Sie konnte Lager leiten, strahlte eine natürliche Autorität aus und blieb immer im Hintergrund. Ein Jahr vor der Pensionierung zog sie sich zurück. Sie wollte nicht, dass die neue Pfarrfrau ebenso wirken musste.» Nachfolger von Hans Ulrich Jäger als Dorfpfarrer in Einsiedeln wurde sein Sohn Urs.

Obwohl der Gesprächspartner das nicht kommentiert, glaubt der Autor, einen gewissen Stolz zu spüren.

«Herr Jäger: Fürchten Sie sich vor dem Tod? Bereitet Ihnen das Sterben Angst?» Der pensionierte Pfarrer schüttelt den Kopf. Sagt nein, er fürchte den Tod nicht. «Könnte ich wünschen, möchte ich im Schlaf sterben und nicht lange leiden müssen.»

Und wenn Sie heute Nacht sterben müssten, was macht dieser Gedanken mit Ihnen? «Der macht nicht so viel mit mir», sagt er mit fester Stimme. «Schade wäre dann, dass Erika alleine wäre und meine Biografie über Clara und Leonhard Ragaz nicht fertig würde.»

Hans Ulrich Jäger liest in der Bibel
Hans Ulrich Jäger: «Nach dem Tod folgt ein Gericht, so wie Paulus das sagt. Dann schlägt er in der Bibel den genauen Wortlaut 1. Korinther 3, Vers 12 bis 15.» (Foto: Paolo Foschini)

Der Herr ist mein Hirte …

«Was denken Sie, was passiert beim Sterben? Wohin führt die letzte Reise?» «Das weiss ich nicht. Ich halte mich an Psalm 23 aus dem Alten Testament.» Der lautet so:

Der Herr ist mein Hirte,

nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen

und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen;

er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; Denn du bist bei mir,

dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht. Du deckst mir den Tisch

vor den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl,

du füllst mir reichlich den Becher. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang, und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.

Hans Ulrich Jäger
Hans Ulrich Jäger erzählt gerne Geschichten, er weiss eine Menge, kann gut unterhalten und hat ein grosses Gspüri für seine Mitmenschen. (Foto: Paolo Foschini)

Versöhnt mit dem Herrgott, versöhnt mit sich selbst

Ein zufriedenes Lächeln huscht über das Gesicht von Hans Ulrich Jäger: «Nach dem Tod folgt ein Gericht, so wie Paulus das sagt.»

Ob nun einer mit Gold, Silber, Edelsteinen, Holz, Heu oder Stroh auf dem Fundament weiterbaut

eines jeden Werk wird offenbar werden, denn der Tag des Gerichts wird es ans Licht bringen, weil er sich im Feuer offenbart: Wie eines jeden Werk beschaffen ist, das Feuer wird es prüfen.

Hat das Werk, das einer aufgebaut hat, Bestand, so wird er Lohn empfangen.

Verbrennt sein Werk, so wird er Schaden erleiden – er selbst aber wird gerettet werden, freilich wie durch Feuer hindurch.

Korinther 3, Vers 12 bis 15

Hans Ulrich Jäger erklärt: «Das Gericht stelle ich mir wie eine grosse Psychoanalyse vor. Alles muss auf den Tisch, nur so kann es Frieden geben.» Er legt eine Pause ein, sagt dann: «Es gilt also, möglichst viel zu erledigen und zu verarbeiten Das Ziel muss sein, ein versöhnter Mensch zu sein. Keine Musterschüler. Versöhnt mit dem Herrgott, mit den Mitmenschen, versöhnt mit sich selbst.»

Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini

3 Antworten auf „Hans Ulrich Jäger: Abgerechnet wird im Himmel“

Christine Friedli sagt:

Lieber Martin herzlichen Dank für deine interessante Geschichte über „unseren“ Dorfpfarrer. ?

Martin Schuppli sagt:

Ich danke. Das Gespräch mit Hans Ulrich Jäger war ein grosses Geschenk für mich. Danke dir für die Vermittlung.

Christine Friedli sagt:

Bitte. Immer wieder gern.

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