Das Wichtigste in Kürze:
- Eltern von Kindern mit körperlichen oder geistigen Behinderungen haben bei der Nachlassplanung einige spezielle Punkte zu beachten.
- Es ist insbesondere Vorsicht geboten, wenn das Kind ergänzend zu seiner IV-Rente Ergänzungsleistungen bezieht.
- Ergänzungsleistungen erhält man, wenn das Vermögen der betroffenen Person unter einem gewissen Freibetrag (CHF 100’000 bei Einzelpersonen) liegt. Wenn das Kind durch eine Erbschaft so viel Geld erhält, dass sein Gesamtvermögen über diesem Freibetrag liegt, kann es zu einer Kürzung oder sogar Einstellung der Ergänzungsleistungen kommen.
- Ausserdem kann es sein, dass das Kind wegen seiner Behinderung in seiner Urteilsfähigkeit eingeschränkt ist. Das kann unter Umständen dazu führen, dass das Kind nicht in der Lage ist, das Familienvermögen weiterzuvererben.
Die Unterstützung eines Kindes mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung ist zweifelsohne für dessen Eltern sehr zeit- und geldintensiv. So finanzieren die Eltern beispielsweise das spezialisierte Heim für ihr Kind, organisieren eine geschützte Werkstätte oder unterstützen ihr Kind kräftig bei der Bewältigung des Alltages. Deshalb ist es sehr naheliegend, dass Eltern sich die Frage stellen, wie sie die Unterstützung ihres Kindes bei ihrem Ableben sicherstellen können.
Die Möglichkeit der Begünstigung des Kindes mit einer Behinderung
Eine erste, sehr naheliegende, Überlegung von vielen Eltern in dieser Situation ist, ihr behindertes Kind speziell zu begünstigen. Es ist beispielsweise an die 20-jährige Lia zu denken, welche aufgrund ihrer körperlichen Behinderung unter der Woche ein spezialisiertes Heim besucht. Am Wochenende ist sie stark auf die Unterstützung ihrer Eltern und ihres grossen Bruders Marc angewiesen. Nun überlegen sich die Eltern von Lia bei der Nachlassplanung, ihrem Sohn weniger Geld zu vererben als ihrer Tochter. Sie möchten das nicht tun, um Lia vor Marc zu bevorzugen. Es geht ihnen darum, Lia bei der Deckung ihrer sehr hohen Alltagskosten selbst nach dem Tod der Eltern zu unterstützen.
Nach der Vorstellung von Lias Eltern würde sie also sowohl finanzielle Unterstützung durch den Staat als auch durch ihren höheren Erbanteil erhalten. Das mag auf den ersten Blick nach einem überzeugenden Plan klagen. Es sind jedoch einige Punkte zu beleuchten, die dabei gewisse Hürden darstellen könnten.
Das Verhältnis der Erbschaft zu den Ergänzungsleistungen
Wenn eine Person eine körperliche oder geistige Behinderung hat, welche ihren Alltag in einem beachtlichen Ausmass prägt, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass diese Person staatliche Leistungen erhält. Im Beispiel von Lia erhält sie eine IV-Rente sowie Ergänzungsleistungen. Die Ergänzungsleistungen erhält Lia, weil ihr Vermögen unter einem bestimmten Freibetrag liegt. Diese Vermögensgrenze beträgt bei alleinstehenden Personen 100’000 Franken und bei Ehepaaren 200’000 Franken. Pro Kind wird der Freibetrag um weitere 50’000 Franken erhöht (Stand: April 2025). Weil im konkreten Beispiel Lia als alleinstehende Person ein Vermögen von 95’500 Franken hat, erhält sie nebst der IV Rente auch Ergänzungsleistungen.
Was passiert aber nun mit diesen Ergänzungsleistungen, wenn Lia plötzlich einen grossen Geldbetrag erbt? Dies ist natürlich von Fall zu Fall unterschiedlich und kann somit nicht pauschal beantwortet werden. Es besteht aber die Möglichkeit, dass die Ergänzungsleistungen für Lia gekürzt oder sogar komplett eingestellt werden, wenn ihr Vermögen nach der Erbschaft über 100’000 Franken liegt. Wollen die Eltern von Lia ihre Tochter bestmöglich unterstützen, müssen sie bei der Nachlassplanung darauf achten, dass ihre Ergänzungsleistungen erhalten bleiben und keine Rückzahlungsansprüche entstehen.
Die Verwaltung des Familienvermögens
Letztlich müssen sich die Eltern von Lia fragen, ob ihre Tochter in der Lage sein wird, das Familienvermögen weiterzuvererben. Artikel 467 des schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) setzt neben der Volljährigkeit die Urteilsfähigkeit der Erblasserin bzw. des Erblassers voraus. Im obigen Beispiel von Lia sind diese Voraussetzungen klar erfüllt. Mit 20 Jahren ist sie volljährig und auch ihre Urteilsfähigkeit ist nicht eingeschränkt, zumal ihre körperliche Behinderung keine Auswirkungen auf ihre kognitiven Fähigkeiten hat.
Anders würde es hingegen aussehen, wenn Lia beispielsweise eine geistige Behinderung hätte. Es müsste in diesem Fall festgestellt werden, ob Lia in Bezug auf die Nachlassplanung urteilsfähig ist. Da die Urteilsfähigkeit nie abstrakt definiert werden kann, muss sie immer bezogen auf den konkreten Einzelfall bestimmt werden. Bei dieser Bestimmung gilt die folgende Faustregel: Je komplexer und schwerwiegender die Nachlassplanung, umso höher sind die Anforderungen an die Urteilsfähigkeit.
Sollte Lia in Bezug auf die Nachlassplanung nicht urteilsfähig sein, bedeutet das, dass sie kein Testament oder keinen Erbvertrag erstellen kann. Das ist selbst dann der Fall, wenn sie durch eine Beistandschaft vertreten wird. Grund hierfür ist die Tatsache, dass es sich bei der Testierfähigkeit um ein sogenanntes «höchstpersönliches Recht» handelt. Das bedeutet, dass nur die Erblasserin oder der Erblasser ihren eigenen Nachlass regeln können. Weder eine gesetzliche Vertretung noch eine Beistandschaft können den Nachlass in Lias Namen regeln. Somit müssen sich die Eltern von Lia bewusst sein, dass ihre Tochter gegebenenfalls nicht in der Lage sein wird, das ihr vererbte Vermögen weiterzuvererben. Abschliessend lässt sich sagen, dass die Begünstigung eines Kindes mit einer Behinderung nicht in jedem Fall den gewünschten Effekt hat. Insbesondere wenn das Kind Ergänzungsleistungen bezieht, ist stets abzuklären, ob ein Vermögensanfall eine Kürzung oder sogar Einstellung der Ergänzungsleistungen zur Folge hat.