Der Mörder, der keine Angst vor dem Tod hat

Den Lebensabend hinter Gittern verbringen. Zu wissen, nicht in Freiheit altern und sterben zu können. Was macht dieses Bewusstsein mit einem Menschen? Ein Besuch bei einem verwahrten Mörder in der JVA Lenzburg AG.

Norbert Hochstrasser zündet sich eine Zigarette an. Es ist die erste von vielen, die er während des zweistündigen Gesprächs rauchen wird. Seit bald fünf Jahren sitzt der 64-Jährige in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg ein. Er gehört zu den «Alten» im Gefängnis, ist einer von elf Insassen der 2011 gegründeten Altersabteilung 60plus.Ihm gefällt es dort: «Ich habe einen Fernseher, einen Wasserkocher, sogar einen Kühlschrank.» Norbert Hochstrasser trägt einen Dreitagebart, seine Haare sind kurz geschoren und vom Zigarettenrauch gelb verfärbt. «Ich werde hier alt und sterbe hier», sagt er, während er den Rauch inhaliert. «Vielleicht wäre die Todesstrafe besser gewesen. Dann wäre alles schon vorbei.»

Norbert Hochstrasser
Norbert Hochstrasser auf dem Weg in den Gang. Während rund 10 Stunden pro Tag steht die Zellentüre offen. (Foto: Peter Lauth)

Eine Pumpgun und drei Schüsse

Norbert Hochstrassers kriminelle Karriere begann in den Siebzigerjahren. Er kidnappte Menschen, zwang sie zu Irrfahrten, zündete Häuser an. 1990 wurde er wegen Erpressung, Brandstiftung und Freiheitsberaubung verurteilt und verwahrt. Vier Jahre später entliess ihn die Justiz wegen guter Führung in die Halbgefangenschaft. Der damals 47-Jährige begann in Basel eine Ausbildung zum Behindertenpfleger. Ihm gefiel der Job. Doch dann, im Januar 1997, drang er mit einem Komplizen in die Stadtzürcher «Pension Neugut» ein, in der er nach seiner Halb-Entlassung eine Zeit lang gelebt hatte. Sein Komplize fesselte den stellvertretenden Heimleiter und einen zufällig anwesenden Bewohner, er stülpte ihnen Säcke über die Köpfe. Als die beiden um Hilfe schrien, schoss Norbert Hochstrasser mit einer Pumpgun auf sie. «In den Kopf, drei Schüsse, drei Kugeln von je 33 Gramm», erzählt er. Seine Stimme ist tief, er atmet schwer. Der Bewohner war sofort tot. Der Heimleiter überlebte schwer verletzt; er nahm sich zehn Monate später das Leben.

«Nach der Tat, stellte ich mich der Polizei»

Er habe sich mit dem Opfer nie verstanden, es mehrmals vor der Tat gewarnt, sinniert der Mörder. Er bläst den Zigarettenrauch in die Luft, sein Blick schweift in Richtung des vergitterten Fensters. «So war es nur konsequent.» Eigentlich wollte der 64-Jährige nur den Heimleiter töten, doch der zufällig anwesende Bewohner habe ihn aufhalten wollen. «Dabei riet ich den anderen Bewohnern sogar: Geht fernsehen.» Der Mörder spricht ruhig und gefasst, wenn er von seiner Tat erzählt; er wirkt fast gleichgültig. «Klar war es Blödsinn. Ich stellte mich am nächsten Tag der Polizei», sagt Norbert Hochstrasser. Im November 2000 verurteilte ihn das Zürcher Obergericht zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe und anschliessender Verwahrung. Bei der Verhandlung entschuldigte er sich bei den Angehörigen, die Schwester des Heimleiters verzieh ihm.

Norbert Hochstrasser
Norbert Hochstrasser geniesst seine Zigaretten trotz schlechter Gesundheit. Besuch erhält er keinen. Die Eltern sind tot, und die Schwester will er nicht sehen. (Foto: Peter Lauth)

In der virtuellen Welt spielt der Gefangene eine fleissige Frau

Seither sind viele Tage vergangen. Tage, die immer in den gleichen Strukturen verrinnen und in denen Norbert Hochstrasser gealtert ist und weiter altern wird. Von 7.30 bis 11.30 Uhr und von 13 bis 20 Uhr stehen die Zellentüren offen. Dann kann er sich im Trakt frei bewegen. Arbeiten darf der Verwahrte im Gefängnis nicht mehr – trotz Arbeitspflicht hinter Gittern. Seine Gesundheit sei zu schlecht. Er ist 150 Kilogramm schwer, hat Wasser in den Beinen. Laufen kann er nur noch mit dem Rollator, seine Gelenke schmerzen. «Ich hatte schon zwei Herzinfarkte», erzählt er, «und ich habe alle Vorzeichen für einen dritten.» Hochstrasser kratzt sich den Dreitagebart. Trinkt einen Schluck Kaffee, zieht an seiner Zigarette, hustet.

Norbert Hochstrasser hat noch nicht resigniert

Auch viele wöchentliche Aktivitäten, etwa Altersturnen, kann er nicht mehr mitmachen. Basteln klappt noch. Letztens hätten sie Weihnachtskarten gemacht, erzählt Norbert Hochstrasser. Er habe ein abstürzendes Flugzeug gemalt, sagt er und grinst. Von Resignation ist bei ihm, in diesem Moment, nichts zu spüren. Anfangs sei es noch die Hölle gewesen, sagt er. Jetzt sitzt Norbert Hochstrasser an seinem Schreibtisch, schaut aus dem vergitterten Fenster. Seine Hand ruht auf dem Rollator. «Man gibt alles auf. Eigenständig denken und bestimmen ist nicht mehr möglich.» Aber mit der Zeit gewöhne man sich daran.

Der Mörder zündet sich eine neue Zigarette an und zeigt auf seinen Computer ohne Internetanschluss. Norbert Hochstrasser spielt mehrere Stunden täglich Sims 3. In der virtuellen Parallelwelt ist er eine fleissige, reiche Frau. Nur letztens konnte er nicht spielen. Der schwere Mann stürzte schwer, lag mehrere Wochen im Bett; hatte nicht einmal die Kraft, eine Gabel zu halten. «Da fütterte mich mein Zellennachbar. Es war erniedrigend.» Ein grosser Menschenfreund ist der Verwahrte nicht. Besuch bekommt er keinen. Die Eltern sind tot, die Schwester will er nicht sehen. Er meint: «Ich hab eh nichts zum erzählen.»

Norbert Hochstrasser
Norbert Hochstrasser auf dem Rollator in seiner Zelle. Auf die Frage, was er täte, wenn er wüsste, dass er heute Nacht sterben würde. «Vielleicht tränke ich einen starken Kaffee, nähme für einmal zwei Kapseln.» Sagts und grinst. (Foto: Peter Lauth)

Tod im Knast: «Wichtig ist, dass ich nie halbtot im Sarg liege»

Über den Tod denkt der 64-Jährige nicht gross nach. Wie jeder der zwölf Insassen der Altersabteilung 60plus wurde er vom Dienstchef ebenfalls mit dem Thema Tod konfrontiert und hatte das Angebot, in einer Patientenverfügung seine letzten Wünsche festzuhalten. Angst vor dem Tod hat der Mörder nicht. «Wichtig ist nur, dass ich nie halbtot im Sarg liege.» Und was, wenn er wüsste, dass er diese Nacht sterben würde? Norbert Hochstrasser hält inne, drückt seine Zigarette aus, überlegt. Vielleicht würde er sich einen guten Kaffee gönnen, «mal zwei Kapseln nehmen».Doch er wolle nicht darüber nachdenken. «Wenn ich sterben will, dann kann ich es», sagt Norbert Hochstrasser. Eine Überdosis Insulin, die Zigarettenasche schlucken, es gäbe viele Möglichkeiten.

Norbert Hochstrasser mit DeinAdieu-Mitarbeiter Nils Hänggi
In seiner Zelle empfängt der verwahrte Mörder DeinAdideu-Mitarbeiter Nils Hänggi zu einem Gespräch. (Foto: Peter Lauth)

Er streckt seine, in Wollsocken gepackten, Füsse von sich und meint, er freue sich lieber auf den 11. Januar. Dann bereite sein Zellennachbar für ihn und ein paar Angestellte seine berühmte Pastete zu. «Der Abteilungsleiter, der Gefängnisleiter, die Beamten plus ihre Liebsten kommen», erzählt der Mörder und zieht an seiner Zigarette. «Eigentlich würde mir die Pastete reichen.»

Text: Nils Hänggi, Fotos: Paolo Foschini

Stephanie Brändle, Nils Hänggi, Mira Güntert
Sie schrieben Reportagen für DeinAdieu: Stephanie Brändle, Nils Hänggi, Mira Güntert. (Foto: Peter Lauth)

Diese Reportage entstand in Zusammenarbeit mit Journalismusstudenten und -Studentinnen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Winterthur.

Im Oktober 2019 wurde Nils Hänggis Reportage ausgezeichnet als «Beste Studiumsarbeit»

Reform 91; Organisation für Strafgefangene und Ausgegrenzte
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