Corina Bürgi-Feld: «Wir überliessen Gott, was er uns geschenkt hatte»

Sie ist Mutter von zwei Söhnen sowie einer Prinzessin im Himmel. In einem Mailwechsel sowie einem Gespräch mit DeinAdieu erzählte die Hausärztin, wie sie mit dem Leben und dem Sterben umgeht.

Ich erlebe Begegnungen, die erzeugen Wellen. Sie sind wie ein Stein, der in stilles Wasser fällt. Da war das Gespräch mit dem jungen Filmemacher Fabian Bürgi. Er porträtierte mich für seine Maturarbeit, und ich wollte unsere Begegnung in einer Geschichte festhalten. Verwickelte ihn also in ein Gespräch. Dabei erfuhr ich einige prägende Erlebnisse aus seinem jungen Leben. Im Nachhinein empfand ich Fabian als gleichaltrigen Gesprächspartner. Ist er nicht. Uns trennen 46 Jahre. 

Das machte mich neugierig. Ich fragte Fabian noch während des Interviews, ob es seiner Mutter egal sei, wenn er mir so viele «intime» Familiendetails schildern würde. Er nickte. Lächelte, und verriet mir zudem, sie sei Hausärztin. Dann notierte er mir ihre E-Mail-Adresse. Ich schrieb Corina Bürgi-Feld. Kurz darauf telefonierten wir – einen halben Sonntagnachmittag lang. 

Corina Bürgi-Feld, ist 48 Jahre alt und wohnt zusammen mit Ehemann Raphael sowie den Söhnen Fabian und Andreas im aargauischen Kelleramt. Von Beruf ist sie Hausärztin. Arbeitet gegen 50 Prozent in der Gemeinschaftspraxis von Philippe Luchsinger in Affoltern am Albis.

Fabian und Corina Bürgi-Feld sowie DeinAdieu-Autor Martin Schuppli
Gespräch in der «guten Küche-Stube». Fabian und Corina Bürgi-Feld sowie DeinAdieu-Autor Martin Schuppli (v. l.). (Foto: Paolo Foschini)

Der Fragebogen forderte Corina Bürgi-Feld heraus

Und weil es ein Sonntagnachmittag war, arbeitete ich auf der Schreibterrasse an einem Fragebogen. Und so entstand dieser Blog-Beitrag. 

Corina Bürgi-Feld, ich lernte deinen Sohn kennen. Wir führten intensive Gespräche. Dabei erfuhr ich, dass du ein Kind gebären musstest, das tot war. Wann und wie war das?

Corina Bürgi-Feld schrieb: Im Dezember 2004 wurde ich, nach eigentlich negativen Abklärungen, unverhofft, aber sehr gewünscht, wieder schwanger – nach Fabian. Beim grossen Organ-Ultraschall im fünften Monat stellte die Gynäkologin fest, der Kopf des Babys, ja der Körper, wachse zu wenig. Es folgten genauere Ultraschallabklärungen und wegen grossen Verdachtes auf eine genetische Störung ordnete die Ärztin eine Chromosomenuntersuchung an.

Zwei Tage später hatten wir die traurige Gewissheit, unsere ungeborene Tochter Valentina leidet an Trisomie 13. Das bedeutet, minimste Lebensfähigkeit bei massivster Behinderung. Sie könnte blind sein, taub und emotional nicht da. Sie würde dahinvegetieren. Zudem war ich gefährdet, sollte es bis zur Geburt Komplikationen geben.

Wir mussten, wir durften einige Entscheide fällen: Soll ich die Schwangerschaft austragen und warten, bis Valentina im Bauch von selber stirbt oder ich eine allfällige Schwangerschafts-Komplikation erleide. Ebenfalls stellte sich die Frage, ob wir das Kind ‹zurückgeben›, gebären und damit seinen Tod in Kauf nehmen. Sprich abtreiben. Töten. 

Corina Bürgi-Feld
Corina Bürgi-Feld: «Wir gaben Gott zurück, was er uns so unverhofft geschenkt hatte. Wir gaben Valentina ihre Freiheit zurück, damit ihre Seele frei sein kann.» (Foto: Paolo Foschini)

«Wir mussten einen traurigen Entscheid fällen»

Ich schrieb Fabians Mutter vor unserem Gespräch, woher sie wusste, was nach der Entbindung zu tun sei. Spirituell beispielsweise oder praktisch. Dem Kind einen Namen geben, Fabian damit «spielen» lassen, dem verstorbenen Baby eine Geschichte schenken, ihm zu einer Identität verhelfen.

Corina Bürgi-Feld antworte folgendes: Sehr traurig, schwierig. Wir fühlten uns getragen von Mitmenschen, Spezialisten, Hebammen. Den Entscheid fällten Raphael und ich gemeinsam. Wir wollten Valentina das nicht antun. Sie sollte nicht so leben müssen. Ebenso fällten wir den Entscheid für uns, für unseren Sohn Fabian.

Wir gaben Gott zurück, was er uns so unverhofft geschenkt hatte. Wir gaben Valentina ihre Freiheit wieder zurück, damit ihre Seele frei sein darf. Es war ein klarer Entscheid. Ein schöner, ein trauriger, ein gemeinsamer Entscheid. 

Fabian klärten wir ebenfalls auf, er war damals viereinhalbjährig und bereits sehr interessiert, stellte viele Fragen zum Sterben. Er wollte etwa wissen, wie das eigentlich gewesen sei, als der Grossvater väterlicherseits krank war, dann starb. Und wie das gewesen sei bei der Grossmutter mütterlicherseits. Seine Offenheit für diese Fragen half uns sehr, mit ihm darüber offen zu sprechen. Fabian wusste, wie sehr traurig wir waren. 

Und er konnte das kommunizieren. So erzählte er unseren Nachbarn auf der Strasse draussen, wir seien traurig, weil unser ‹Bebi› wieder sterben werde …
Wir liessen uns zwei Wochen Zeit mit der Geburt, organisierten die Kirche, planten die Beerdigung, kreierten das Geburts- resp. Todeskärtli. Alle waren wir sehr aktiv, sehr ruhig, sehr bewusst. Wir lachten, vergossen Tränen, sprachen einen Tag vor der Entbindung noch mit einer Psychologin, das Gift* für Valentina hatte ich schon genommen …

(*Beim Gift handelt es sich um Levonorgestrel. Der Wirkstoff einer «Pille danach».) 

Corina Bürgi-Feld spielt mit Andorinha
Corina Bürgi-Feld spielt mit Andorinha. Sie ist eine portugiesische Wasserhündin, fünfeinhalbjährig. Ihr Name bedeutet Schwalbe. (Foto: Paolo Foschini)

«Ich ‹brauchte› den Schmerz der Geburt»

Den Namen Valentina gaben wir ihr sofort nach der vernichtenden Diagnose, als wir wussten, es ist ein Mädchen. Und der Ultraschall fand am Valentinstag statt. So war der Name klar.

Schwierig gestaltete sich Valentinas Geburt. Wir planten eine normale Geburt. Das kannte ich nicht. Bei Fabian war der Kaiserschnitt nötig aus medizinischen Gründen. Ich wusste also nicht, was Wehen sind, wie sie sich anfühlen. Es war Neuland. Schwierig für eine, die gern alles unter Kontrolle hat und steuert. Im USZ-Gebärsaal hatte ich keine Chance. Ich musste es geschehen lassen, musste mich auf Menschen verlassen, die ich nicht kannte, musste ihnen vertrauen.
 
Das klappte. Und es war eine der wichtigsten Erkenntnisse in dieser schwierigen Zeit für mich: Loslassen kann ich. Ich werde getragen, niemand legt mir Steine in den Weg. Im Gegenteil. Sie sind weggeräumt, oder ich werde darum herumgeführt. 


Nie vergesse ich meine Hebamme. Als mein Mann sie zum Zeitpunkt der schmerzvollsten Wehen fragte, ob ich nicht endlich eine PDA-Narkose haben könne, sagte sie: ‹Nein, ihre Frau braucht jetzt diesen körperlichen Schmerz›.

Wie recht sie hatte. Reden konnte ich nicht. Wegen dieses Wehenschmerzes fühlte ich mich wie in einer Trance. Die erfahrene Frau hatte es so klar auf den Punkt gebracht. Ich war ihr dankbar.

Valentina starb unter der Geburt. Jemand legte sie neben mich. Raphael und ich konnten sie betrachten, anfassen, wahrnehmen. Wir bestaunten ihre sechs Finger, ihre kräftige Muskulatur, ihr spezielles Gesicht, ihre Feinheit und zugleich ihre Robustheit. Wir bestaunten sie einfach, unsere Valentina. 


Für mich war klar, wir würden Valentina nach ihrer Geburt taufen. Mit dabei im Gebärzimmer: die Spital-Seelsorgerin, die Grosseltern, Valentinas Gotti und Götti, sowie natürlich Fabian mit seinem Gotti. Die beiden brachten selbstgebackenen Lebkuchen mit. 

«Der Mond tauchte Valentina in ein zartes Licht»

Alle betrachteten wir Valentina. Fabian etwas scheu und mit Distanz. Er setzte sich etwas abseits zum Bett und plötzlich sagte er, an die Decke schauend: ‹Da gaht sie jetzt.› 

Verrückt. Alle haben sie es wahrgenommen, unser Kind. Sie ist kein Abfallprodukt, sondern unsere Tochter, das Götti-Mädchen, die Enkelin und vor allem: Valentina ist Fabians Schwester.


Und dann legten die Hebammen das stillgewordene Kind in ein Bettchen, betteten es ein, deckten den Körper etwas zu mit einem Nuschi, schmückten sie mit trockenen Rosenköpfen. Dann durfte ich Valentina mit nach oben nehmen ins Zimmer zum Übernachten. Und das war so schön. Wir waren um Mitternacht im obersten Zimmer des Nordtrakts, der Mond schien auf Valentina und mich. Extrem schön und berührend. So bedeutend. So wirklich.


Wir konnten unsere verstorbene Tochter in einem Kindersärgli nach Hause nehmen. Denk ich zurück, haben wir dieses Schicksal, dieses kurze Leben, das Sterben von Valentina und alles, was es mit sich brachte, einfach gelebt. Wir vertuschten nichts, beschönigten nichts, machten nichts trauriger, als es war. Wir lachten. Liessen Schönes zu. Nahmen es wahr. Ich glaube, das ist es, was Fabian mitbekommen hat. Und das hat ihm die Angst vor dem Konfrontieren genommen. Kranksein, Sterben gehört zum Leben.

Ich frage im Mail: Ihr hattet bereits ein Kind. Fabian. Er war damals fast fünf. Dann geschah dieser Todesfall und knapp ein Jahr später gebarst du einen weiteren Buben. War das mutig und gewollt?

Corina Bürgi-Feld, Fabian Bürgi
Corina Bürgi-Feld: «Einen Teil meiner Trauerarbeit verarbeitete ich zusammen mit Fabian, ‹benutzte› ihn ein wenig dafür.» (Foto: Paolo Foschini)

 «Andreas wollte zu uns kommen. Und er kam»

Corina Bürgi-Feld hat bestimmt gelächelt, als sie mir folgendes schrieb: Mutig? Nein. Normal war es. Sechs Wochen nach der Geburt nahm ich einen Kontrolltermin bei der Gynäkologin wahr, und sie meinte, es sehe alles gut aus. Bereit für Neues. Ich ging nach Hause … und wurde prompt schwanger. Trotz dem anscheinend schlechten Spermiogramm meines Mannes. Das passt zu unserem zweiten Sohn. Andreas ist genau so. Wenn er etwas will, dann will er es. Und er wollte zu uns.

Es war verrückt. Körperlich war ich bereit. War ich es emotional? Ich weiss es nicht, wahrscheinlich schon.

Raphael und ich hatten in den zwei Wochen vor Valentinas eigentlichem Sterben gemeinsam sehr intensiv getrauert. Nachher machte das jeder für sich. Das war für unsere Beziehung nicht so einfach. Ich verarbeitete vieles zusammen mit Fabian, ‹benutzte› ihn ein wenig dafür.


Während der Schwangerschaft mit Andreas machten wir erneut keine zusätzlichen Untersuchungen, nur das Normale. Und wir waren alle sehr, sehr glücklich über das gesunde Ankommen unseres Andreas. Fabian ebenso, obwohl er sich doch eine Schwester gewünscht hatte …

Tabuthema Tod ins Familienleben integriert

Fabian Bürgi erzählte mir bei seinem Besuch im Schwatzgeschäft viel vom Leben. Sagte, Tod und Sterben sei und wäre in seiner Familie jederzeit ein Thema gewesen, es hätte zum (Familien)-Leben gehört. Ich war erstaunt, wie sehr überlegt und abgeklärt der 19-Jährige darüber spricht. 

So wollte ich von seiner Mutter, Corina Bürgi-Feld, wissen, ob die «Integration» eines Tabu-Themas in die Familienstruktur ein bewusster Prozess gewesen oder obs geschehen sei, wegen der «vielen» Todesfälle innert kurzer Zeit?

Sie schrieb: Für mich waren – wegen meiner eigenen Erfahrung mit dem frühen Tod meiner Mutter als ich 13-jährig war – Krankheit, Sterben und Tod nie ein Tabu, sondern immer etwas Faszinierendes. Mit ein Grund, warum ich Ärztin werden wollte.

So gesehen war es normal, meinem gut vierjährigen Sohn zu erklären, woran seine Grosseltern starben, seine Fragen bis ins Detail zu beantworten und seine Fantasien mitzuleben, weiterzudenken.

 
Und dann kam Valentina. Glück, Hoffnung, Hammerschlag. Tod, Abschiednehmen, Trauern. Da erlebte und durchlebte er es hautnah, in der Realität. Dann mit neuneinhalb Jahren erlebte Fabian den nächsten Hammer. Er verlor zwei geliebte Menschen. Grossmutter Hedy und Onkel Stephan. 
Beide erhielten, im Abstand von einer Woche, schwerste, nicht heilbare Diagnosen. Bösartiger Hirntumor und metastasiertes Melanom. Diese Schocknachrichten vertuschten wir nicht, beide Söhne waren da, hörten mit, erlebten unsere Fassungslosigkeit, unsere Trauer, unsere Ängste. Die Kinder erlebten ebenso, wie wir für die beiden da waren und ebenso für den übrigbleibenden Onkel. Wir lebten diese Zeit einfach miteinander, bis zum Tod der beiden. Ich glaube, es war nicht eine Ohnmacht, die unsere Buben spürten, sondern ein ‹Da gehen wir zusammen durch›». 

Fabian Bürgi am Piano
Pausenkonzert. Fabian Bürgi spielt Brahms. Die Rhapsodie op. 79, Nr. 2. (Foto: Paolo Foschini)

Wie beeinflusst dieses gelebte Schicksal die Hausärztin?

So ausführlich wie Corina Bürgi-Feld mit ihren Söhnen über Leben und Sterben redet, macht sie das ebenfalls mit ihren Patienten, Patientinnen. Mehr über ihre Arbeit, über ihren Standpunkt zum Thema Freitod sowie über ihre Rechte und Pflichten als Hausärztin redet Corina Bürgi-Feld nächste Woche im zweiten Teil dieses Blog-Beitrages. 

Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini

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